Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
freundlichem Blick, Bedauern in der Miene, wandte er sich Emily zu. »Verstehst du, warum ich es tun muss, ganz gleich, was es mich kostet? Wenn ich nicht davon erfahren hätte, könnte ich mich heraushalten, aber ich weiß es nun einmal.«
»Wer hat es dir gesagt?«, fragte Emily.
»Voisey. Aber es entspricht der Wahrheit. Inzwischen habe ich den Entwurf auch gesehen.«
»Voisey?«, stieß Emily wütend hervor.
Er fasste sie sanft an den Schultern und hielt sie fest. »Es stimmt. Ich werde das weitergeben – wenn nötig, bis zum Premierminister – , bevor ich etwas unternehme, und du darfst mir glauben, niemand in Westminster wäre glücklicher als ich, wenn sich die Sache als blinder Alarm herausstellen sollte – aber das wird es vermutlich nicht. Die Polizeiführung hat diese Vollmacht mit der Begründung verlangt, der Staatsschutz habe sich als unfähig erwiesen, die Gewalttaten der Anarchisten und das zunehmende Verbrechen einzudämmen.« Ein leiser Schauer überlief ihn. »Sie haben erklärt, sie müssten die Möglichkeit haben, notfalls so vorzugehen, um die Bevölkerung zu schützen. Ohnehin wäre die Erteilung der Vollmacht keine große Sache, und man werde nur in den seltensten Fällen Gebrauch davon machen. Doch wenn sie die erst einmal haben, kann ihnen niemand das Handwerk legen, denn es ist nichts vorgesehen, was einen Missbrauch verhindern könnte. Die Lebenserfahrung lehrt uns aber, dass es zum Wesen der Macht gehört, den Menschen zu korrumpieren.«
Emily sah zu Charlotte und dann wieder zu Jack hin. »Von mir aus«, sagte sie zögernd. »Trotzdem habe ich Angst.«
»Mir geht es genauso«, sagte er leise, nahm eine Hand von ihrer Schulter und liebkoste ihre Wange. »Ich habe auch Angst.«
Nach dem Mittagessen ließ sich Charlotte von Jack die Erlaubnis geben, Vespasia zu berichten, was er gesagt hatte. Sie schlug Emilys Angebot aus, sie mit ihrer Kutsche hinbringen zu lassen, da es ihr verlockender erschien, die gut zwei Kilometer im Sonnenschein des Frühsommers zu Fuß zu gehen. Das würde ihr Gelegenheit geben, nicht nur innerlich zur Ruhe zu kommen, sondern auch ihre Gedanken zu ordnen. Raschelnd fuhr ein angenehmer leichter Wind durch das Laub der Bäume, sodass die
Blätter wechselnde Schattenmuster auf den Boden malten. In vorüberfahrenden offenen Kutschen saßen nach der letzten Mode gekleidete Frauen, deren Hüte mit Federn, großen Satinschleifen und Rüschen geschmückt waren. Von all dem sah sie so gut wie nichts.
Vespasia, die ein Kleid aus grauvioletter Seide trug, wollte gerade zu einem Nachmittagsbesuch aufbrechen, als Charlotte eintraf. Als sie aber merkte, wie enttäuscht die Jüngere darüber zu sein schien, gab sie ihr Vorhaben auf.
»Was gibt es?«, fragte sie, als sie sich gesetzt hatten. Charlottes Besorgnis war ihr nicht verborgen geblieben. Aus dem stillen Salon fiel der Blick auf den grünen Rasen; im Beet davor bildete eine früh blühende gelbe Kletterrose einen freundlichen Farbfleck.
»Gerade als ich mich mit Emily über den Gesetzentwurf unterhielt, bei dem es darum geht, der Polizei mehr Schusswaffen zu geben und größere Vollmachten einzuräumen«, sagte Charlotte, »ist Jack nach Haus gekommen und hat uns von einer weiteren Entwicklung berichtet, die das Ganze noch viel bedrohlicher erscheinen lässt als zuvor – als ob es nicht schon schlimm genug gewesen wäre.« Der alten Dame gegenüber nahm sie kein Blatt vor den Mund. Nicht nur gab es dazu keinen Anlass; es hätte sie auch angesichts ihrer engen Beziehung nur gekränkt. »Es gibt bereits jetzt viel böses Blut, und es sieht ganz so aus, als ob sich die Sache noch mehr zuspitzen würde, sobald weitere Verbrechen bekannt werden, die über das Alltägliche hinausgehen.«
»Dass es dazu kommen wird, darauf dürfen wir uns verlassen«, sagte Vespasia finster. »Aber wir sind nicht ganz hilflos. Ich habe den Eindruck, dass sich Jack in der Politik mittlerweile recht gut zurechtfindet, und so denke ich, dass er unbedingt auf unserer Seite stehen wird. Auch auf Somerset Carlisle können wir zählen. Er hat stets gegen jede Art von Ungerechtigkeit gekämpft, ganz gleich, was ihn das selbst kosten mochte.«
Charlotte sah, wie sich ein Schatten auf Vespasias Gesicht legte. Sie wartete. Es wäre taktlos, sie nach dem Grund zu fragen.
»Früher hätte ich als sicher angenommen, dass sich auch Lord Landsborough mit allem Nachdruck gegen ein solches Gesetz ausspricht«, fuhr Vespasia leise und mit
Weitere Kostenlose Bücher