Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
wenn Menschen in Gefahr sind, die sie liebt. Wenn ihr Mann oder ihre Kinder bedroht werden, kämpft sie bis zum Tode und denkt über die Folgen erst nach, wenn sich daran nichts mehr ändern lässt. Und ich zweifle, dass sie es dann bedauern würde. Wie gesagt, wir brauchen eine Waffe. Manchmal genügt schon das Wissen, worin sie bestehen könnte.«
»Meinst du?«, fragte Charlotte zweifelnd. »Oder würde er den Bluff durchschauen?«
»Was für einen Bluff?«, fragte Vespasia freundlich.
Charlotte zog es vor, das Thema zu wechseln. »Es tut mir Leid, dass ich deine Pläne für den Nachmittag durcheinander gebracht habe. Hoffentlich habe ich dir damit keine allzu großen Ungelegenheiten bereitet. Auf jeden Fall bin ich dir wirklich dankbar, dass du dir die Zeit genommen hast, mir zuzuhören. Ich wüsste niemanden außer dir, dem ich mein Herz hätte ausschütten können.«
Vespasia lächelte. Ihr war anzusehen, dass sie sich freute. »Ich
hatte nichts Wichtiges zu tun«, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Bitte überleg dir, was du in Bezug auf Voisey tun willst. Da er und Jack hinsichtlich Tanquerays Vorhaben einer Meinung sind, kann es dir niemand übel nehmen, wenn du dich mit ihm beschäftigst. Aber halte ihn keine Sekunde lang für dumm, und nimm auch nicht an, dass er dich unterschätzen wird.« Vespasia erhob sich. »Ich werde mich einmal sehr ausführlich mit dem Thema Anarchie beschäftigen und festzustellen versuchen, warum in aller Welt ein junger Mann wie Magnus Landsborough bereit sein sollte, dafür ein ausgesprochen behagliches Leben aufzugeben.«
Auch Charlotte stand auf. »Ich bin dir wirklich sehr dankbar«, sagte sie leise.
»Halt bloß den Mund«, sagte Emily eindringlich, als sie und Charlotte sich am Nachmittag auf der Besuchergalerie des Unterhauses niederließen. Die Debatte, in der es um den von Tanqueray eingebrachten Gesetzesantrag gehen sollte, konnte jeden Augenblick beginnen. Um sie herum hörte man das Rascheln von Seide, während sich nach der neuesten Mode gekleidete Damen links und rechts von ihnen niederließen. Emily beugte sich über die Brüstung und flüsterte aufgeregt: »Da ist er.«
Charlotte folgte ihrem Blick, konnte aber Jacks ihr wohlbekannten Kopf nicht sehen. »Wo?«, fragte sie.
»Etwa in der Mitte, gleich in der zweiten Reihe«, gab Emily zur Antwort. »Rötlich-brünett, ungefähr wie ein ausgeblichener Fuchs.«
»Wer?«
»Nicht Jack, Charlotte, Voisey!«, zischte sie.
»Ach so. Und wer ist dieser Tanqueray?«
»Das weiß ich nicht. Er soll um die Mitte vierzig sein; ich habe aber keine Ahnung, wie er aussieht.«
Die Sitzung begann. Der feierlich in seine Amtsgewänder samt
Perücke gekleidete Präsident des Unterhauses bat um Ruhe. Der Innenminister sprach zum Thema Anarchisten und allgemeiner Gewalttätigkeit im East End und erklärte, die Regierung habe die Lage sorgfältig geprüft und werde ihr weiteres Vorgehen dementsprechend planen.
Von den gegenüberliegenden Bänken der Opposition wurde gezischt. Einzelne Buh-Rufe ertönten. Nach einigen Augenblicken, in denen sich allgemeines Durcheinander, gegenseitige Schmähungen und Beifall abwechselten, erhob sich ein Mann mit einem ausdruckslosen weichen Gesicht. Das Licht brach sich in seinem dichten Haar, das an den Schläfen langsam weiß wurde.
Der Präsident rief das ehrenwerte Mitglied für den Wahlbezirk Newcastle-under-Lyme auf.
»Das muss Tanqueray sein«, flüsterte Emily ihrer Schwester zu. »Ich weiß, welchen Wahlkreis er vertritt.«
Als Erstes erklärte der Abgeordnete, wie betroffen alle Mitglieder des Unterhauses über den Vorfall in der Myrdle Street seien, bei dem so viele Menschen schwere Verluste erlitten und Todesängste ausgestanden hatten. Dann wandte er sich ganz allgemein dem East End zu und wies darauf hin, dass die Umtriebe der Anarchisten auf ganz London überzugreifen drohten.
»Ehrenwerte Mitglieder des Hauses, wir müssen uns dieser Bedrohung ungesäumt stellen!«, sagte er mit Nachdruck. Alles wartete mit angehaltenem Atem auf seine nächsten Worte. Tanqueray umriss, welche Maßnahmen ihm vorschwebten. Dazu gehörte, dass man jede Polizeiwache mit Schusswaffen ausrüsten solle. Außerdem regte er an, man möge dafür sorgen, dass Streifenbeamte das Recht bekamen, beliebige Passanten auf der Straße anzuhalten und zu durchsuchen und diese Durchsuchung auch auf deren Wohnungen oder Geschäftsräume auszudehnen.
Billigende Zurufe ertönten. Manche der
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