Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
würde er anderswo essen, nicht im selben Wirtshaus wie Taschen-Jones.
Tellman kehrte in Siegesstimmung in seine Wohnung zurück, doch als er im Bett lag und über seinen Erfolg nachdachte, ging ihm auf, dass er zwar ein genaues Bild vom Ablauf, aber nicht den geringsten Beweis für eine Straftat hatte, derentwegen er Jones festnehmen könnte. Besäße die Polizei die neuen Vollmachten, über die im Unterhaus kürzlich debattiert worden war, hätte er diese nutzen können, um den Mann zu durchsuchen. Der Gedanke erfüllte ihn mit Bitterkeit, denn ihm stand der Sinn nicht nach Schusswaffen, und noch weniger wünschte er, dass von Wetron und seinesgleichen korrumpierte Kollegen solche bekamen.
Er brauchte einen Vorwand, um Jones festsetzen zu können, damit Pitt Gelegenheit hatte, an dessen Stelle das Geld abzuholen und darauf zu warten, dass die Leute, für die Jones arbeitete, kamen, um es sich aushändigen zu lassen.
Sofern sie Pitt ebenfalls für korrupt hielten – und sie hatten keinen Anlass, etwas anderes anzunehmen –, brauchten Tellmans Gründe für Jones’ Festnahme nicht unbedingt stichhaltig zu sein. Wenn die Sache aber aufflog und Wetron davon erfuhr, würde der ihn damit für den Rest seines Lebens unter Druck setzen können.
Während er sich unruhig im Bett hin und her wälzte, überliefen ihn abwechselnd heiße und kalte Schauer.
Die Aussicht, in Wetrons Gewalt zu sein, schien ihm weniger unangenehm als das Bewusstsein, unehrenhaft zu handeln. Er malte sich aus, was seine Mutter davon halten würde. Noch bitterer als ihre Verachtung wäre der Schmerz, den er ihr damit bereiten würde.
Und dann Gracie! Sie wäre wütend auf ihn, weil er nicht klug genug gewesen war, sich etwas Besseres einfallen zu lassen. Sie hätte keinen Grund mehr, zu ihm aufzusehen.
Aus welchem Grund aber könnte er Jones festnehmen, ohne sich in diese Zwickmühle zu begeben? Dass der Mann ein Erpresser war, ließe sich nicht nachweisen, weil keins der Opfer den Mut haben würde zu sagen, dass sie unter Druck bezahlt hatten. Alle wussten, dass in einem solchen Fall als Nächstes die Polizei ins Haus käme und bei ihnen Hehlerware, Falschgeld oder Papiere finden würde, die nicht dorthin gehörten.
Mit einem Mal setzte er sich auf, sodass er die Kälte durch das Nachthemd spürte. Das war es! Noch hatte Jones nicht alle Wirtshäuser in jener Gegend aufgesucht, würde also am nächsten Tag bei weiteren kassieren wollen. Wenn ihn nun einer der Wirte mit Falschgeld bezahlte? Das ließe sich ohne große Mühe einrichten. Wer Erpressern Falschgeld gab, machte sich nicht strafbar, und es dürfte Tellman nicht schwer fallen, an einige gefälschte Geldscheine heranzukommen. Im Revier seiner Wache kannte er mindestens einen Trickbetrüger, der ihm einen Gefallen schuldete und nur allzu gern bereit sein dürfte, ihm auszuhelfen. Vermutlich wusste er, wie man an Falschgeld kam.
Trotzdem war Vorsicht geboten. Er musste Jones folgen, darauf achten, dass er sich das Geld geben ließ, und ihn dann gleich festnehmen. Der Besitz von Falschgeld, über dessen Herkunft er nichts würde sagen können, weil er sich sonst selbst ans Messer liefern würde, wäre ein hinreichender Grund, ihn einige Tage, wenn nicht gar eine Woche lang, festzuhalten. Damit hätte Pitt eine Gelegenheit, an die Hintermänner heranzukommen.
Tellman war hellwach. Sein Entschluss war gefasst. Jetzt musste er nur noch überlegen, welchen seiner Kollegen er zur Festnahme von Jones mitnehmen wollte. Es war klüger, das nicht allein zu tun, für den Fall, dass sich der Mann zur Wehr setzte, womit man rechnen musste. In Gegenden wie Mile End oder Whitechapel gab es genug dunkle Gässchen und schmuddelige Hinterhöfe, in denen man jemandem ein Messer in den Leib rammen und ungesehen verschwinden konnte. Dort würde ihm niemand zu Hilfe kommen. Auf der anderen Seite wagte er nicht, sich den Kollegen der zuständigen Wache anzuvertrauen, weil jeder von ihnen korrupt sein konnte, wenn er nicht gar einer von Jones’ Hintermännern war oder die Verbindung zu ihnen herstellte.
Er legte sich wieder hin und fiel nach einer Weile in einen unruhigen Schlaf. Kaum war er am nächsten Morgen aufgewacht, stellte er sich erneut die Frage, wen er für vertrauenswürdig genug hielt, um ihn mitzunehmen.
Letzten Endes blieb ihm keine rechte Wahl. Er würde sich zwischen Stubbs und Cobham entscheiden müssen. Cobham war neu und eindeutig nicht gewohnt, Anweisungen auszuführen, ohne nach
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