Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
dem Warum zu fragen. Da keine Zeit für lange Erklärungen war, dürfte es das Beste sein, Stubbs mitzunehmen. Von ihm wusste er lediglich, dass auch er der Älteste in einer kinderreichen Familie gewesen war. Er sprach gelegentlich von seiner Mutter, aber nie von seinem Vater, vielleicht weil dieser nicht mehr lebte. Zwar musste Tellman mit der Möglichkeit rechnen, dass der Ehrgeiz des Mannes in eine Richtung ging, die ihm schaden konnte, oder er über Verbindungen verfügte, denen man besser nicht traute. Das aber galt gleichermaßen für alle Männer auf der Wache. Wenn er diesen Befürchtungen nachgäbe, würde er sich nie entschließen. Das war eine der schlimmsten Folgen der Korruption: Sie hemmte die Tatkraft und sorgte dafür, dass alle Entscheidungen in der Schwebe blieben, bis man zum Schluss an jedem zweifelte und sich selbst nicht mehr über den Weg traute.
Als Tellman an jenem kühlen Vormittag aufbrach, um sich Falschgeld zu besorgen, lag leichter Nebel über der Themse. Um acht Uhr suchte er den Wirt des Gasthauses auf, von dem er am ehesten annehmen durfte, dass er bereit war, Jones mit Falschgeld abzuspeisen, ohne durch irgendeinen Hinweis zu verraten, dass mit der Zahlung etwas nicht stimmte. Um ganz sicher zu gehen, rief ihm Tellman die Unannehmlichkeiten in Erinnerung, denen er sich ausgesetzt sehen würde, wenn die Sache fehlschlug; außerdem malte er ihm aus, wie günstig es sich für ihn auswirken würde, wenn ihr Unternehmen erfolgreich ausging.
Um neun Uhr trat er wie immer in der Bow Street seinen Dienst an und ging Wetron so weit wie möglich aus dem Weg. Er beschloss, Stubbs nicht zu sagen, dass er ihn später brauchen würde, weil ihm das zu gefährlich erschien. Stattdessen suchte er ihn um die Mittagszeit auf, als er gerade einen Bericht abfasste, und teilte ihm mit, er habe eine Aufgabe im Außendienst für ihn. Stubbs, dem der Papierkram zuwider war, schloss sich ihm bereitwillig an.
Sie suchten einen Pfandleiher auf, bei dem sie sich nach zwei gestohlenen Kerzenleuchtern und einer silbernen Deckelvase erkundigten, was Tellman ohne weiteres allein hätte tun können. Von dort gingen sie weiter nach Osten, als folgten sie der Spur dieser Gegenstände. Sie nahmen in der Smithfield Tavern einen Imbiss ein und setzten ihren Weg dann in Richtung des Wirtshauses fort, in dem Jones, wie Tellman annahm, an jenem Tag kassieren würde. Anfänglich hatte er erwogen, sich schon dort, wo Jones lebte, auf dessen Fährte zu setzen und ihm zu dem Wirtshaus zu folgen, wo der gefälschte Geldschein auf ihn wartete. Dann aber fürchtete er, dass Stubbs ihn möglicherweise warnen konnte, falls er dem Inneren Kreis oder einem seiner Mitglieder in irgendeiner Weise verbunden oder verpflichtet war oder einfach Angst hatte.
Also mussten sie warten. Der Himmel bewölkte sich, es regnete, und sie begannen zu frieren. Stubbs fragte sich offenkundig immer mehr, was sie dort wollten.
Tellman unterließ es, ihm Erklärungen zu geben. Dazu wären zu viele Einzelheiten nötig gewesen, über die er nicht reden wollte.
Wieder ging ein Schauer nieder, Hagelkörner prallten gegen die Scheiben des Geschäfts, vor dem sie Zuflucht gesucht hatten. Mit einem Mal tauchte Jones auf. Er trug einen schwarzen Hut, und wie am Vortag schlug ihm der Mantel um die Beine. Er betrat das Wirtshaus und kam zehn Minuten später wieder heraus. Er wischte sich den Mund ab und ging auf die andere Straßenseite. »Los!«, sagte Tellman scharf. »Auf ihn haben wir es abgesehen.«
»Warum?«, fragte Stubbs, kam aber ohne zu zögern mit. Er trat in eine Pfütze und fluchte leise. »Was hat er getan?«
»Er besitzt Falschgeld«, gab Tellman zur Antwort.
»Woher wollen Sie das wissen?« Stubbs holte ihn gerade in dem Augenblick ein, als Jones vor ihnen in ein Gässchen einbog, um den Weg zum nächsten Wirtshaus abzukürzen.
»Das gehört zu meinen Aufgaben«, sagte Tellman und schritt kräftig weiter aus. Es war ihm nicht recht, Jones an eine Stelle folgen zu müssen, die ihm nicht vertraut war, weil man ihn dort leicht in einen Hinterhalt locken konnte. Auf keinen Fall aber wollte er ihn aus den Augen verlieren, denn es war gut möglich, dass er gerade in diesen wenigen Augenblicken das Geld weitergab. Damit aber wäre der Grund für die Festnahme entfallen. Die Korruption in der Polizei nagte an Tellman wie ein Geschwür, und der Gedanke, den Kampf gegen sie zu verlieren, schien ihm unerträglich. Nicht nur würde er sich den Vorwurf
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