Flammenbucht
Antwort.
Sie ließ ihn nicht aus den Augen. »Ich erinnere mich gut daran; ich war ein Mädchen von zwölf Jahren, als Euer Großvater Norgon Geneder sich gegen den Despoten Torsunt erhob. Es wurde damals ein großes Fest in der Stadt gefeiert, denn Euer Großvater war sehr beliebt, und die Bürger hofften, er werde sich selbst zum Kaiser erheben. Die ›Feier von Vara‹, so nannte man diesen Tag in späteren Erzählungen… Ihr müßt damals fünf Jahre alt gewesen sein.«
Ja, Baniter erinnerte sich: Es war an einem Sommertag gewesen. Seine Mutter hatte damals für ihn getanzt, im Ballsaal von Gendor, jener kreisrunden Halle mit ihren weißen Wänden; die Fenster waren geöffnet gewesen, und zwischen den Vorhängen war Wind in den Saal geströmt, hatte das Haar seiner Mutter aufgeweht; lachend hatte sie ihn umkreist, hatte Baniter an den Händen gegriffen, mit ihm getanzt, während sein Vater Gadon auf einer Laute gespielt hatte, sein Lächeln kaum zu erkennen unter dem schwarzen Bart, doch von unverhohlenem Triumph gezeichnet. Dann die starken Arme eines Mannes, der Baniter emporgehoben hatte; sein Großvater Norgon, ein älterer Mann mit buschigen Augenbrauen und einer dunklen Stimme, vor der sich Baniter stets ein wenig gefürchtet hatte; er hatte ihn zum Fenster emporgehoben, damit er auf das Wasser sehen konnte, das die Eiserne Insel umgab; staunend hatte Baniter auf die Stadt geblickt, auf das herrliche Vara, das in diesen Tagen mit unzähligen Fahnen geschmückt war, auf denen der zum Sprung ansetzende Luchs prangte. Sein Großvater hatte leise die Melodie mitgesummt, die Gadon seiner Laute entlockte, und Baniter dann ins Ohr geflüstert:
Nun wird sich alles ändern, mein Junge… spürst du es? Diese Stadt wird vergehen und einer anderen weichen, und all unsere Träume werden in Erfüllung gehen. Endlich ist es soweit, endlich ist die Zeit gekommen…
Baniter hatte diese Worte damals nicht verstanden, doch er hatte sie sich eingeprägt; sie waren untrennbar mit der Erinnerung an jenen Tag verschmolzen, jenem kurzen Moment des Glücks. Doch ebenso war ihm die Vertreibung seiner Familie im Gedächtnis geblieben, die wenige Tage später erfolgt war. Bewaffnete Krieger hatten über Nacht die Eiserne Insel besetzt und Baniters Eltern verhaftet; seine Mutter Hjele totenbleich und mit geröteten Augen, sein Vater Gadon, der mit heiserer Stimme auf die Ritter eingeredet hatte; und der Großvater fort, verschwunden… als Baniter nach ihm gefragt hatte, hatte Hjele ihm ins Ohr gezischt, daß Norgon niemals mehr zurückkehren werde und Baniter seinen Namen nicht mehr in den Mund nehmen solle. Baniter hatte nicht begriffen, was um ihn herum geschah. Dann ihre plötzliche Flucht: eine mehrtägige Kutschenfahrt, er hatte auf dem Schoß seiner Mutter gesessen, und sie hatte ununterbrochen geschluchzt; sein Vater aber war in Vara festgehalten worden, und Baniter hatte Angst gehabt, er könnte ebenso verschwinden wie der Großvater. Erst nach mehreren Wochen war Gadon Geneder von dem Vorwurf freigesprochen worden, den Umsturz seines Vaters Norgon unterstützt zu haben; und so hatte er seiner Familie nach Gehani folgen dürfen, jener Stadt, in die man sie nach der ›Feier von Vara‹ verbannt hatte.
»Es ist zu lange her«, behauptete Baniter. »Ich habe vergessen, was damals geschah.« Er wich Sinustres Blick aus. »Meine Eltern haben mit mir niemals über jene Tage gesprochen; zu groß war für sie die Schmach, des halben Fürstentums beraubt worden zu sein und zudem noch im gesamten Kaiserreich als Verräter zu gelten.« Sinustre Cascodi hob abwehrend die Hände. »Wer damals wen verriet, ist umstritten. Es gibt im Archiv der Stadt einige interessante Aufzeichnungen über die damaligen Ereignisse. Ihr solltet bei Gelegenheit einen Blick darauf werfen.«
Baniter sah sie prüfend an.
Sie weiß offenbar genau, wie sie mich ködern kann.
»Ich nehme an, Ihr könnt mir Zugang zu diesem Archiv verschaffen.«
Die Dame Sinustre schlug die Augen nieder. »Eigentlich darf nur der varonische Fürst diese Schriftstücke einsehen, obwohl Hamalov Lomis sich bisher nie dafür interessiert hat. Doch glücklicherweise zählt der Leiter des Archivs zu meinem engeren Bekanntenkreis.«
Dieser ›engere Bekanntenkreis‹ scheint mir eher ein weitverzweigtes Netz unter Varas männlichen Bewohnern zu sein.
»Ich wäre Euch ausgesprochen dankbar, wenn Ihr mich an ihn weitervermitteln könntet«, sagte Baniter. »Im Gegenzug werde ich im
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