Flammenbucht
Graue Stoppeln bedeckten Kinn und Wangen und ließen Balicors Gesicht um Jahre älter erscheinen.
Wer waren die ersten gewesen, die ihn verraten hatten? Die Tempelschwestern… sie hatten ihre Quartiere vor zwei Wochen verlassen, im Morgengrauen. Unheimlich hatten ihre weißen Gewänder im Dunst des anbrechenden Tages geschimmert, und ihre Gesänge hatten schaurig im Innenhof des Tempels widergehallt. Vergeblich hatte Bars Balicor versucht, sie zum Bleiben zu bewegen, doch alle Bitten und Drohungen waren wirkungslos gewesen. Die frommen Frauen hatten sich von ihm losgesagt; sie glaubten, der neue Hohepriester habe gegen Tathrils Gesetze verstoßen und das Wohlwollen seines Gottes verloren. Feiges Pack, treuloses Gesindel, Verräter, nichts als Verräter! Auch viele Novizen waren geflohen; hatten eines Nachts die Mauern des Tempels erklommen und das Weite gesucht. Und die Tempelritter? Von der einst so stolzen Garde waren kaum fünfzig Mann übriggeblieben. Der Rest hatte seinen heiligen Eid gebrochen und war zu Nhordukael übergelaufen - dem falschen Hohenpriester, dem dreisten Emporkömmling, dem ›Auserkorenen‹, wie der Pöbel ihn zu nennen pflegte.
Die vergangenen Wochen hatten Bars Balicor sichtlich mitgenommen. Es hatte große Anstrengungen gekostet, die zerbröckelnde Kirche zusammenzuhalten, wankelmütige Kuratoren zu bestechen, aufmüpfige Tempelherren zu ersetzen und ein Söldnerheer zur Verteidigung der Kirche anzuwerben. Inzwischen hatte sich das Chaos der ersten Tage gelegt. Es stand nun fest, welche Tempel treu geblieben und welche abtrünnig geworden waren. Doch der eigentliche Kampf um die Vorherrschaft, dies wußte Bars Balicor, stand erst noch aus. Um die einhundert Gläubigen hatten sich zum heutigen Morgengebet im Innenhof versammelt. Die Hälfte von ihnen lebte erst seit kurzer Zeit im Tempel; Mönche aus Palgura, Varona und Ganata, die nicht dem Irrglauben an das Wunder von Thax verfallen waren. Die überwiegende Zahl der Neuankömmlinge jedoch stammte aus Troublinien. Sämtliche Tempel des Gildenreiches hatten sich auf Balicors Seite geschlagen, und die troublinischen Kaufleute hatten dem Hohenpriester großzügige Spenden zukommen lassen. Bars Balicor kannte den Preis für diese Unterstützung. Überall im Kaiserreich rückten troublinische Priester in die höchsten Positionen der Kirche vor. Vier Kuratoren waren in den vergangenen Wochen durch Troublinier ersetzt worden, unzählige Tempelvorsteher und Weihepriester. Die troublinische Tathril-Kirche forderte ihren Anteil an der Macht, und Bars Balicor wußte, wer hinter diesen Bestrebungen stand.
»Das Zeitalter der Wandlung hat begonnen«, murmelte er vor sich hin. »Die Bathaquar kehrt zurück, und die Welt taumelt dem Abgrund entgegen, vor dem uns Durta Slargin einst bewahrte.«
Mit finsterer Miene beobachtete er den Vorbeter, der soeben die letzten Worte des Morgengebetes sprach; auch er war ein Troublinier und Anhänger jener Sekte, die den Tempel unterwandert hatte.
Die Diener der Bathaquar sind überall! Ich habe ihnen die Kirche ausgeliefert. Tathril sei meiner Seele gnädig! Balicor wußte, daß sein Schicksal längst untrennbar mit der Bathaquar verwoben war. Vor vielen Jahren, als er ein aufstrebender Priester auf der Insel Morthyl gewesen war, hatte er sich mit der Sekte eingelassen, deren Existenz nur wenigen Personen in Sithar bekannt war. Doch nachdem er zum Kurator von Morthyl berufen worden war, waren ihm die Bathaquari rasch lästig geworden, und so hatte er sie beseitigt. Ihrem Anführer Rumos Rokariac hatte er eigenhändig ein Messer durch die Kehle gerammt, um sich seiner zu entledigen. Doch all dies war vergeblich gewesen. Rumos hatte den Meuchelmord dank seiner magischen Künste überlebt, und die Bathaquar war nicht untergegangen, sondern hatte im verborgenen die Jahre überdauert. Nun hatten die Wirren der vergangenen Kalender die Bathaquari nach Sithar gelockt. Balicor war erneut zu ihrem Werkzeug geworden -ein Hohepriester ihrer Gnaden, der keine Macht besaß, sich gegen ihre dunklen Künste aufzulehnen. »Tathrils Barmherzigkeit gewährt uns einen neuen Tag«, schallte die Stimme des Vorbeters über den Platz, »uns, die wir dem wahren Hohenpriester treu geblieben sind; uns, die wir unsere Schwerter gegen den Feind des Glaubens erheben. Ein neuer Tag bricht an! Bald wird neues Blut gegen die Mauern unseres Tempels branden, und es wird das Blut der Abtrünnigen sein!«
Hohles Geschwätz
/, fuhr es Bars
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