Flammenbucht
»Damals erkannte ich, daß der Weltenschmied uns belogen hatte, als er uns zu Sklaven seiner Pläne machte. Bis zum heutigen Tag lassen wir uns von seinen Lügen blenden, die er uns in Form seiner Schriften hinterließ.«
Tyra senkte den Kopf. »Aber diese Schriften sind wahr! Der Junge, von dem sie kündeten, ist zu uns gekommen.«
»Eine Täuschung, ein abgefeimtes Spiel! Mondschlund hat uns die wahren Absichten des Weltenschmieds enthüllt!« Sadris griff in die linke Tasche seiner Hose und zog ein Tuch hervor. Als er es entfaltete, blitzte das Symbol einer Mondsichel auf, die in den schwarzen Stoff eingestickt war.
»Wir müssen verhindern, daß sich das Kind mit dem Gefüge vereint. Denn wenn dies geschieht, kann niemand es mehr aufhalten.« Er streckte Tyra das Tuch entgegen. »Einem unserer Brüder gelang es, sich in die Ruhende Kammer einzuschleichen; doch bevor er das Tor der Tiefe versiegeln konnte, wurde er von den Wächtern der Kammer getötet. Damit bleibt uns nur noch eine Möglichkeit - wir müssen den Wandelbaren selbst vernichten!« Tyra blickte ihn erschrocken an. »Er ist noch ein Kind, Sadris, und schuldlos an seinem Schicksal!« »Darauf können wir keine Rücksicht nehmen.« Sadris streckte ihr das Tuch entgegen »Du arbeitest seit geraumer Zeit in der Erhabenen Halle und bist somit die einzige, die in die Nähe des Jungen gelangen kann. Du wirst ihn in einem günstigen Moment beseitigen.«
Tyra erbleichte. »Die goldene Maske des Jungen wird meine Absicht erraten und sich zur Wehr setzen.« »Du vergißt die Macht, die Mondschlund uns verlieh - die Macht der Verhüllung! Nimm das Tuch an dich; seine goldenen Fäden werden die Maske ebenso verwirren wie das Gefüge.«
Tyra warf einen Blick auf den silbernen Draht an der Höhlendecke. »Entspricht es Mondschlunds Willen, den Jungen zu töten? Vielleicht genügt es, die Maske von seinem Gesicht zu entfernen, sie zu zerstören.« Sadris packte ihre Hand und führte sie an seinen Armstumpf. »Wenn ein Körper dem Gefüge geweiht ist, gibt es kein Zurück mehr! Nur mit Gewalt kann man das Fleisch von ihm trennen. Begreife es endlich - der Junge ist zu einem Werkzeug des Weltenschmieds geworden. Niemand kann ihn retten.«
Tyra zögerte. »Auch mich will Darsayn mit dem Gefüge vereinen. Ich soll zu einer Beschlagenen werden…« Er hob die Hand, strich ihr unbeholfen über den Kopf. »Ich werde nicht zulassen, daß du auf gleiche Weise verstümmelt wirst wie ich. Doch dieser Junge muß sterben, Tyra; nur so können wir verhindern, daß der Weltenschmied triumphiert. Ich weiß, du bist noch unerfahren; du hast erst vor kurzem den Pfad des Mondes beschritten. Gerne würde ich einem Jünger mit größerer Erfahrung diese Aufgabe anvertrauen, aber du bist die Einzige, die Zutritt zur Erhabenen Halle hat und den Wandelbaren beseitigen kann.«
Tyra nickte. Dann nahm sie das schwarze Tuch an sich. Ihr Gesicht wirkte blasser als zuvor. Das Gefüge aber, es lauschte; und Unruhe erfaßte sein silbernes Netz, das sich durch die Gänge des Heiligen Spektakels zog.
Laghanos riß die Augen auf. Sein Herz hämmerte; er spürte Schweiß auf seiner Stirn. Keuchend preßte er die Handflächen gegen die Schläfen. Unweit von ihm wehten die Schleier vor dem Zugang seiner Kammer, und er konnte den Luftzug hören, der durch die Gänge strich.
Er versuchte sich zu sammeln. Offenbar war er auf seinem Lager eingeschlafen, obwohl er sich vorgenommen hatte, wach zu bleiben. Nachdem Darsayn ihn in seine Kammer zurückgebracht hatte, hatte sich Laghanos auf dem Bett zusammengekauert; er hatte ruhen wollen, einen Augenblick nur, doch dann hatte der Schlaf ihn wohl übermannt.
Hatte er geträumt? Er konnte sich nicht entsinnen; doch im Augenblick des Erwachens hatte er eine vertraute Stimme gehört: den Rotgeschuppten, der seinen Namen gerufen hatte, »Laghanos, Laghanos…«
Haben die Goldei einen Weg in die Sphäre des Heiligen Spektakels gefunden? Sucht Aquazzan nach mir, um mich ein zweites Mal zu seinem Schüler zu machen?
Ein Schüler, ja… Seit ihn die Malkuda aus den Armen seiner Mutter entrissen hatte, war Laghanos stets ein folgsamer Schüler gewesen, dem jene, die sich seine Lehrer nannten, ihren Willen aufgezwungen hatten. Sorturo, sein Meister an der Universität zu Larambroge - wie sehr hatte Laghanos ihn verehrt; er hatte ihn geliebt wie einen Vater, doch Sorturo hatte nie Zweifel daran gelassen, daß er in Laghanos vor allem den gelehrigen
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