Flammende Versuchung
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte ihm ihre Hand entgegen. Er ließ sich auf dem breiten Balken auf die Knie nieder und zog sie zu sich hoch, bevor auch nur einer der Grobiane unten kapiert hatte, was da vor sich ging.
Meggie balancierte seelenruhig neben ihm auf dem Balken und betrachtete ihre Situation ohne erkennbare Höhenangst. »Jetzt hast du’s versaut, Papa.«
»Ja, das könnte man so sagen.«
Sie tätschelte seinen Arm. »Mach dir keine Sorgen.« Sie griff in das Oberteil ihres Kleidchens und zog die Pistole raus.
Er griff nach der Waffe, aber sie hielt sie außer Reichweite. »Warte …« Sie musterte ihn für eine Weile ernsthaft. »Papa, vertraust du mir?«
Gott, sie konnte es nicht noch schlimmer machen, als er es bereits gemacht hatte. Und sie hatte recht: Er hatte es versaut. Er nickte. »Ich vertraue dir.«
Sie grinste schalkhaft. »Tu einfach so, als wärst du … na ja, nicht du. Okay?«
»Ich glaube, das schaffe ich. Ich hab’s geübt«, sagte er voller Ernst.
Sie tätschelte wieder seinen Arm. »Ich helf dir dabei.« Dann drehte sie sich um und schaute in den Schankraum hinab. »Oy!«, rief sie. Wieder durchschnitt ihr klarer,
kindlicher Sopran den Lärm wie ein gutes Messer Latrinendreck. Der Mob schenkte ihr griesgrämig seine Aufmerksamkeit.
Sie schwenkte die Pistole. Die Aufmerksamkeit wurde verdrossener, aber die Lautstärke im Raum nahm tatsächlich ab. »Wir brauchen Männer, um den Heath zu durchkämmen. Ihr habt euch alle soeben freiwillig gemeldet.«
Der Gastwirt lag noch immer am Boden, sodass der zweitgrößte Mann es auf sich nahm, den Anführer der Meute zu geben. »Wer bist’n du, dass du glaubst, uns sagen zu könn’, was wir tun soll’n. Bist ja’n Kind.«
Meggie lachte gehässig. »Ich bin kein Kind. Ich bin der fieseste Zwerg, dem du je begegnet bist.«
Es war so unglaubwürdig, dass man darüber hätte lachen können – wenn der Zwerg nicht mit absoluter Vertrautheit eine riesige Pistole geschwungen hätte. Da war etwas an kaltem Stahl und Schießpulver, was enorm überzeugend war.
Der Mann, der auch der geistige Riese der Menge zu sein schien, wies auf etwas hin, was er für wichtig hielt: »Du trägst aber’n Kleinmädchenkleid.«
Meggie riss glücklich die Augen auf. »Hab’s geklaut, jawoll«, knurrte sie. »Dem jungen Ding, das ich mit eben der Pistole hier umgebracht hab!«
Calder schloss kurz die Augen als Entschuldigung an alle, die je versucht hatten, Meggie gute Manieren beizubringen. Nach dieser Sache hier wäre es ein weiter Weg zurück in die Wohlanständigkeit. Dann unterstützte er sie – mit seiner eigenen Stimme. »Genau. Ich hab
sie gesehen. Um ehrlich zu sein: Sie hat ein paar Leute umgebracht. Sie hat auch den Mann umgebracht, von dem ich die Kleider hier hab. Sie tötet oft. Ich glaube, es macht ihr Spaß.« Er schaute auf seine kleine Tochter mit ihren Kniestrümpfen und den winzigen Schnürschuhen herab. »Sie zieht das Kleid an, damit die feinen Damen glauben, sie hätte sich verlaufen. Und dann raubt sie sie aus.«
Meggie bedachte ihn mit einem Blick respektvoller Anerkennung. Fast freute er sich darüber, bis er sich daran erinnerte, dass er ihn der Tatsache verdankte, dass er hier grässliche Lügen verbreitete. Sie grinste hinab auf die Männer. »Also, wen soll ich als Erstes aufs Korn nehmen?«
Der Hüne trat unruhig von einem Bein aufs andere, während er sich umblickte. Ihm schien aufzugehen, dass er sich zu einer Art Zielscheibe gemacht hatte, indem er die Rolle als Sprecher angenommen hatte. »Also … wonach wollt Ihr eigentlich überhaupt den Heath absuchen?«
»Meine … Schwester«, antwortete Meggie. »’n Mann hat sie entführt … so’n feiner Pinkel … und der versteckt sich hier irgendwo.«
Der Mann rieb sich eine Weile das unrasierte Kinn. »Ich hat’ auch mal’ne Schwester. Nehm an, ich würd den Pinkel auch finden woll’n, der se sich geschnappt hat.«
Der Mann neben ihm gluckste. »Ja, damit wir ihn um’n paar Kröten anhau’n könnt’n.«
Mit einem Schlag seiner riesigen Faust schlug der Anführer den Kerl neben ihm zu Boden, ohne ihn vorher
auch nur angesehen zu haben. Dann schaute er wieder hoch zu Meggie und Calder. Calder konnte die Rädchen in seinem Verstand schier ticken hören.
»Angenommen, wir finden den feinen Pinkel und Eure Schwester – Ihr sagt doch, Ihr hättet feine Damen ausgeraubt … was kriegen wir denn dafür?«
Verzweiflung wallte in Calder auf und
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