Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)
sie tun soll. Ob sie Kerzen oder Räucherstäbchen anzünden müsste. Sie bleibt einfach sitzen, schließt kurz die Augen und betrachtet die Zeichnung.
Sie erinnert sich, wie ihre Hand zitterte, als sie zeichnete, was sie gesehen hatte, und wie schwer es ihr gefallen war, sich zu konzentrieren. Immer wieder ließ sie den Blick durchs Zimmer schweifen, um zu sehen, ob der Geist zurückgekehrt war.
Nun schaut sie sich ihre Zeichnung von Neuem an. Sie kann nicht gut zeichnen, aber man sieht, dass das Mädchen auf dem Boden liegt. Sie sieht die kleinen Kreuze und erinnert sich, dass sie für die Fransen des Badezimmerteppichs stehen sollten.
Floras Hand hatte gezittert, und der eine Oberschenkel war ihr deshalb so dünn geraten wie ein nackter Beinknochen.
Die Finger vor dem Gesicht sind nur Striche. Hinter ihnen sieht man den geraden Mund.
Wieder knarrt der Stuhl neben der Küchenzeile.
Flora kneift die Augen zusammen und starrt die Zeichnung an.
Es sieht aus, als wären die Finger eine Spur auseinandergeglitten, denn Flora kann jetzt ein Auge sehen.
Das Mädchen sieht sie an.
Als es in den Rohren rauscht, zuckt Flora zusammen. Sie sieht sich in dem kleinen Raum um. Der Diwan liegt schwarz im Schatten, der Tisch steht in einer dunklen Ecke verborgen.
Als sie erneut auf die Zeichnung blickt, ist das Auge nicht mehr zu sehen. Eine Falte in dem karierten Blatt läuft über das Gesicht der gezeichneten Figur.
Floras Hände zittern, als sie versucht, das Blatt glattzustreichen. Die dünnen Finger des Mädchens verbergen die Augen. Nur ein Teil seines Mundes ist auf dem karierten Papier zu erkennen.
Plötzlich knarrt der Fußboden hinter ihr, und Flora schaut sich hastig um. Das Herz, das über dem Kopf des Mädchens hängt, hat fließende Ränder bekommen. Sie lässt den Blick über die zerzausten Haare wandern und kehrt zu den Fingern vor dem Gesicht zurück. Flora reißt instinktiv die Hände hoch, als sie sieht, dass der Mund kein gerader Strich mehr ist.
Er ist geformt wie bei einem Schrei.
Flora hat sich von ihrem Stuhl erhoben, atmet keuchend, starrt die Zeichnung an, den schreienden Mund hinter den Fingern, und will schon nach dem Kriminalkommissar rufen, als sie das Mädchen entdeckt.
Es hat sich in dem Schrank an der Wand verborgen und scheint zu versuchen, möglichst nicht entdeckt zu werden. Aber so, wie es dort steht, lässt sich die Tür nicht schließen. Das Mädchen steht vollkommen still und hält sich die Hände vors Gesicht. Dann gleiten die Finger auseinander, und es schaut Flora mit einem Auge an.
Flora starrt das Mädchen an.
Es sagt etwas hinter seinen Händen, aber die Worte sind nicht zu verstehen.
Flora tritt näher.
»Ich verstehe dich nicht«, sagt sie.
»Ich erwarte ein Kind«, erklärt das Mädchen und nimmt die Hände vom Gesicht. Fragend tastet es seinen Hinterkopf ab, zieht seine Hand nach vorn, betrachtet das Blut und taumelt. Aus seinem Hinterkopf rinnt Blut in einem dichten Strom, läuft seinen Rücken herab und auf den Boden.
Sein Mund öffnet sich, aber noch ehe es dazu kommt, etwas zu sagen, schüttelt es den Kopf, und seine dünnen Beine geben nach.
Joona hört ein Krachen und eilt ins Nebenzimmer. Flora liegt vor einem halboffenen Wandschrank auf dem Boden. Sie setzt sich auf und sieht ihn verwirrt an:
»Ich habe sie gesehen … sie ist schwanger …«
Joona hilft Flora auf.
»Haben Sie das Mädchen gefragt, was passiert ist?«
Flora schüttelt den Kopf und sieht zu dem leeren Schrank hinüber.
»Keiner darf etwas sehen«, flüstert sie.
»Was sagen Sie?
»Miranda hat mir erzählt, dass sie schwanger ist«, sagt Flora weinend und weicht zurück.
Sie wischt sich die Tränen ab, blickt zu dem umgestürzten Schrank hinüber und verlässt das Zimmer. Joona nimmt ihren Mantel vom Stuhl und folgt ihr, während sie bereits die Treppe zur Straße hinaufsteigt.
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FLORA SITZT AUF DER TREPPENSTUFE vor Antiquitäten Carlén und knöpft ihren Mantel zu. Ihre Wangen haben wieder Farbe bekommen, aber sie sagt nichts. Joona steht mit dem Handy am Ohr auf dem Bürgersteig. Er ruft Chefobduzent Nils Åhlén von der Rechtsmedizinischen Abteilung des Karolinska-Krankenhauses an.
»Warte«, hört er Åhlén sagen. »Ich habe mir ein Smartphone gekauft.«
Es raschelt laut in Joonas Ohr.
»Ja?«
»Ich habe eine kurze Frage«, sagt Joona.
»Frippe ist verliebt«, entgegnet Åhlén mit seiner nasalen, gequetschten Stimme.
»Wie schön«, kommentiert Joona
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