Flammenopfer
lief Sprotte zuliebe über den Park am Falkplatz. Die Ystader Straße bog nach links ab. Mitten über die Fahrbahn verlief eine Mauer. Dem Wegeplan, den er sich eingeprägt hatte, zufolge hätte er die Mauer überwinden oder durchbrechen müssen. Aber die Mauer war unmissverständlich. Über sie hinaus ragten die Oberleitungen der Stadtbahn.
Das gibt es nicht mehr oft in Berlin, dass eine Mauer quer über die Straße läuft, dachte er. Er zog Sprotte hinter sich her, die mit jeder Laterne, jedem Baum und jedem Fahrrad eine Welt entdeckte.
Den Notizblock mit Isabels Angaben hatte er im Auto liegen lassen. Er kam an einer Schule vorbei, an einem verwilderten Gelände mit Bauschild, an einem Mietshaus, dessen Putz großflächig abgefallen war, und an einem Mietshaus direkt im Anschluss, das dafür umso schwerere Ornamente trug. Daneben begann ein schmales Gelände mit vielen Bäumen, weit zurückgesetzt stand eine Doppelgeschossvilla mit Walmdach. Ihr Putz war grau wie die Wegplatten und die Restfarbe am Eisengitter. Das Gelände war gut gesichert, alle zwei Meter war das Gitter durch gemauerte Pfosten unterbrochen.
Ein Aluminiumschild an dem Tor am nächsten Pfosten trug das Berlinerbärchenwappen und wies die Villa als Kinderheim Pankow – Abt. 3 – » Glühwürmchen« aus. Wie man Verwaltungssprache und Kinderpoesie in einem Namen unterbringen kann, dachte Sternenberg.
Die dazu passenden Kinder waren gerade von der Treppe vor dem Hauseingang gesprungen und hüpften herum, ein paar standen schon am Weg. Sprotte schnüffelte derweil einer Kolonie Feuerkäfer hinterher, die einen Ahornbaum umkreiste. Die Hundeschnauze wich zurück, und Sprotte trabte mit flatternden Ohren zu Sternenberg herüber.
Aus dem Haus kamen nicht nur Kinder. Die Erzieherinnen trugen weiße Kittel. Das erinnerte ihn an etwas Unangenehmes, er konnte es aber nicht zuordnen. Ein erwachsenes Paar trat aus der Tür. Die Frau trug ein vielleicht drei Jahre altes Mädchen auf dem Arm. Die Erzieherinnen riefen die Kinder zusammen und nahmen einige bei der Hand.
Sternenberg wollte die Pforte öffnen. Eine Frau mit straff nach hinten gezogenem grauem Haar hob die offene Hand und streckte sie in seine Richtung von sich. Darauf wich er vom Tor zurück und beobachtete die Szenerie weiter von der Straße aus.
Das Paar mit dem Kind, die Frauen in den Kitteln und die Kinder an den Händen und an den Kittelzipfeln sahen aus wie eine Prozession. Sie näherten sich dem Tor. Die grauhaarige Frau blieb zurück und sah streng hinterher.
Sternenberg hielt den Hund am Halsband.
Das Mädchen auf dem Arm blickte verwirrt auf seine Kameradinnen und Kameraden hinunter. Einige Kinder versuchten, sie zu berühren. Vor dem Tor blieben alle stehen. Eine Erzieherin nahm das Kind vom Arm der Frau und küsste es. Sie hatte feuchte Augen. Das kleine Mädchen erwiderte den Kuss. Es wurde an eine andere Erzieherin gereicht. Die weinte nicht und übergab das Mädchen an eine junge rothaarige Erzieherin, die so unsicher war wie das Kind. Die vierte Frau erdrückte das Kind beinahe. Dann hielt sie es so tief, dass es knapp über den Gehwegplatten schwebte. Die Kinder defilierten an ihr vorbei und drängelten nur wenig.
Ein Mädchen mit Zöpfen wollte dem hängenden Kind einen Kaugummi schenken. Inzwischen hatte sich die Farbe vom Kaugummi gelöst, und die Finger des Mädchens waren rot gefärbt. Sie starrte entsetzt auf ihre Hände und wusste nicht, ob sie den Kaugummi noch verschenken konnte.
Ein anderes Mädchen küsste das Kind so heftig und schnell, dass es wie ein Kampfbiss aussah.
Als die Reihe vorbei war, kam die grauhaarige Leiterin zu der Prozession und ging zum Tor. Sie gab erst dem Mann, dann der Frau die Hand. Sie wartete, bis das Kind wieder bei den beiden war. Sie war die Einzige, die das Kind nur auf die Stirn küsste. Dann gab sie der Erzieherin, die geweint hatte, ein Zeichen, und es wurde ein unmelodisches Lied angestimmt, das Sternenberg nicht kannte.
Das Kind im Arm der Frau sah dabei wie ein Weihnachtsengel aus. Ein schwarzhaariger Weihnachtsengel. So huldvoll, wie Kinder aussehen, die mit Liebe überschüttet werden, die sie so lange nicht bekommen haben.
Das Tor wurde geöffnet. Das Paar mit Kind trat heraus. Sternenberg war mit dem Hund bis zum Baum zurückgewichen. Ein Kind begann zu winken, dann winkten alle anderen. Auch das Kind auf dem Arm hob das Händchen, wusste aber nicht, ob es winken sollte, da doch die anderen winkten.
Das Paar ging
Weitere Kostenlose Bücher