Flammenopfer
drehte sie sich an einem Stück der Wand. Da ging sie nicht auf. Aber man konnte hindurchschauen, zwischen der Wand und der Tür konnte man durchblicken. Was war eigentlich dahinter?
» Ich wusste gar nicht, dass eine Tür ein so tolles Spielzeug ist«, flüsterte Sternenberg.
» Nicht nur das. Das ist die kleine Ursula. Bis jetzt war sie nie weiter als bis zu diesem Raum gegangen. Sie ist zwar ab und zu von ihrem Zimmer und ihrem Flur hierhergekommen, aber immer mit einer meiner Frauen. Beobachten Sie sie.«
» Manchmal glaube ich, sie fällt um, wenn sie sich nicht an der Tür festhält. Oder sie klemmt sich die Finger ein.«
» So viel Kraft hat sie noch nicht. Vielleicht würde es ihr wehtun, aber es kann nichts passieren. Sehen Sie!«
Ursula stand an der Kante der halb geöffneten Tür und schaute in den anderen Raum. Dann blickte sie sich in dem Raum um, in dem sie stand und den sie kannte. Draußen, hinter der offenen Tür, war etwas, was sie nicht so gut kannte. Sie konnte sich auch nicht genau erinnern, was dort war. Probeweise schloss sie die Tür noch einmal. Dann war alles vertraut. Das Neue da draußen war weg. Wenn sie an der Tür zog, war es wieder da. Wo war es in der Zwischenzeit? Ging es weg? Oder blieb es da?
» Darf sie raus?«
» Alle Außentüren sind verschlossen, und im Haus kann wenig passieren. Sie machen sich zu viele Sorgen, Herr Sternenberg«, flüsterte sie. » Das ist ein wichtiger Augenblick für Ursula. Da können wir nichts verbieten.«
Das Mädchen öffnete die Tür nur so weit, dass sie ihr Gesicht hindurchstecken konnte. Die beiden Erwachsenen sah sie kurz, aber sie hatte Wichtigeres zu tun. Sie öffnete die Tür weiter und schaute zurück. Sternenberg sah erst jetzt, dass eine der anderen Erzieherinnen hinten im anderen Raum stand und das Kind von dort aus beobachtete.
Ursula hielt sich an der Seitenkante der Tür fest und tat einen Schritt über die Schwelle. Vorsichtig stapfte sie einen weiteren Schritt vor. Langte zurück nach der Tür und drückte sie weit auf, um in das Zimmer zurücksehen zu können, aus dem sie kam. Dann ging sie weiter, die Hand an der Wand. Die Erzieherin folgte langsam und nickte der Markiewicz zu.
» Geh ruhig weiter, Ursula«, sagte sie, mehr zu ihrer Vorgesetzten als zu dem Kind.
Das Kind ging weiter.
» So, jetzt können wir durch«, sagte die Heimleiterin.
Sternenberg folgte ihr und warf noch einen Blick auf das Mädchen mit dem unmodischen Namen, das einen kleinen Schritt getan hatte. Und irgendwie doch einen großen Schritt für die Menschheit.
Es war ein schmaler, aber langgestreckter Garten mit großen Kastanien. Die Miniermotte hatte den Bäumen im vergangenen Jahr zugesetzt. Auf einem Lastwagen war sie angeblich aus Mazedonien nach Mitteleuropa eingeschleppt worden. In diesem Jahr kämpften die Kastanien ums Überleben.
» Sie nehmen sehr viel Rücksicht auf die Kinder.«
» Wir tun, was man tun muss. Das Mindeste.«
» Sie lassen sich auf die Kinder ein.«
» Ja. Wie gesagt: Es ist das Mindeste.«
» Aber das Mindeste ist nicht selbstverständlich. Ich hätte das eben nicht mitbekommen, dass das Kind zum ersten Mal seine Umwelt betritt. Wahrscheinlich hätte ich Ursula genommen und ins Zimmer zurückgebracht, weil ich Angst hatte, sie könnte sich die Finger einklemmen.«
Für eine Sekunde hatte er das Gefühl, sie würde lächeln.
» Die meisten Eltern hätten so gehandelt, wie Sie es sagen, Herr Sternenberg. Wir sind keine Heldinnen. Wir versuchen einfach zu erkennen, was wichtig für die Kinder ist. Das eben war für Ursula so wichtig wie ihr erstes Schulzeugnis. Oder ihr Abitur. Doch, doch. Gefühlsmäßig schon. Wir müssen hier noch mehr darauf achten, als es die Menschen draußen tun. Diesen Kindern wurde viel Leid angetan. Viele von ihnen sind abgestumpft. Oder gestört. Wir müssen zweierlei leisten: Auf der einen Seite feste und klare Regeln, an die sich alle halten. Auf der anderen Seite den Kindern ein Gefühl dafür geben, was wichtig ist. Wenn eines von ihnen Geburtstag hat, dann machen wir eine sehr große Feier, und es ist nur ihr Tag. Sie sollen keinen Geburtstag vergessen. Sie brauchen positive Erlebnisse in ihrem Leben. Sie haben so viele schlimme gehabt, dass wir ihnen ein paar Anker der Erinnerung geben. Sie werden das brauchen. Nicht nur, um sich jetzt wohl zu fühlen, sondern weil sie es im Leben schwer haben werden. Wir wissen nie, ob eines dieser Kinder außerhalb unseres Heimes noch einmal ein
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