Flammenpferd
Runde. In den ersten Tagen war einer der Betreuer mit gekommen, aber er hatte ihr Tempo nicht durchgehalten. Sie war froh, dass sie ohne Begleitung laufen durfte. Allein mit sich und ihren Gedanken. Das Kind kann gut allein sein, hatten die Eltern gesagt. Damals war sie fünf gewesen, und das Alleinsein hatte ihr nicht gefallen. Inzwischen war sie dafür bereit. Sie besaß einen freien und unabhängigen Willen. Das wiederum hatten die Therapeuten gesagt. Stark und uneinsichtig.
Sie verließ die Wiese und setzte ihren Lauf auf einem breiten Sandweg fort. Hier wurden die Tritte schwerer, doch sie verminderte das Tempo nicht. Das Feuerzeug, das sie an einem dünnen Lederriemen um den Hals trug, schlug ihr bei jedem Schritt gegen die Rippen. Der tiefe Sand zog an ihren Füßen. Es hätte einmal eine Olympialäuferin gegeben, die wäre immer barfuß gelaufen, auch in den Rennen, hatte ihr eine Psychologin erzählt. Kati blieb auf dem Sandweg, der mit sanfter Steigung auf eine Baumgruppe zuführte, statt daneben auf das kurze Gras auszuweichen. Die letzten Schritte ging sie wie immer langsam, und ein Stück vor den Bäumen blieb sie stehen und machte ihre Dehnungsübungen. Sie wusste, dass sie beobachtet wurde.
„Du bist spät dran heute“, rief Benni und trat aus dem Schatten einer vom Wind zerzausten Steineiche. Die Nachmittagssonne fiel auf seinen geschorenen Schädel und tauchte sein trauriges Kindergesicht in ein warmes Licht. Er war nicht stark, das hatte sie sofort gespürt. Und er war in sie verliebt. Das merkte man an seinen Blicken, die sie nicht los lassen wollten. Er war der erste Junge, der sie so sehr mochte, und sie genoss dieses ungewohnte Gefühl der Zuneigung, auch wenn sie selbst sich niemals verlieben würde. Weder in Benni, noch in irgendeinen anderen Jungen. Niemals wieder wollte sie einen Menschen lieb haben. Alles, was man Liebe nannte, war so verlogen wie der Mann, der ihr Vater gewesen war und behauptet hatte, sie wäre ihm das Liebste auf der ganzen Welt, bis die Mutter ihm im Streit offenbarte, dass Kati nicht seine Tochter wäre. Danach war alles anders geworden.
„Deine Haare“, sagte Benni verwundert.
Nicole hatte ihr in einem Anfall mütterlicher Fürsorge ein Paket mit allerlei Krimskrams geschickt, darunter auch eine Packung Haarfärbemittel, die Kati wirklich gebrauchen konnte. Die alte Farbe war fast raus gewaschen gewesen. Sie kam schon lange nicht mehr mit dem Kamm durch die verfilzten Strähnen, doch die frische Färbung hatten die Haare gut angenommen. Sie glänzten tiefrot wie Feuerschein.
„Gefällt es dir?“
„Doch, schon. Sieht gut aus.“
Sie freute sich, obwohl es ihr eigentlich gleichgültig sein konnte, was Benni von ihrem Aussehen hielt. Es war ihr grundsätzlich egal, was die anderen von ihr hielten.
„Ich hab ’ne Überraschung für dich“, sagte er.
Sie hob das linke Bein, stemmte es waagerecht gegen den borkigen Eichenstamm und beugte den Rumpf mit ausgestreckten Armen gegen die Zehen.
„Quatsch“, sagte sie, nachdem sie die Übung mit dem anderen Bein ausgeführt hatte.
„Glaub’s mir“, beharrte Benni, der ihre Bewegungen mit den Blicken verschlang. „Bei uns auf dem Hof.“
Sie fügte noch einige Dehnungsübungen am Boden an.
„Komm schon“, sagte Benni ungeduldig. „Es hat mit Fadista zu tun.“
Auf einem Umweg, am Saum eines Pinienwäldchens entlang, führte er sie an den Hof heran. Auf der nahen Weide standen die Pferde mit hängenden Köpfen dösend dicht beieinander und wehrten sich mit trägem Schweifschlagen gegen die Fliegen. Das Wohnhaus lag verlassen in der Mittagssonne, und der Hund war nicht zu sehen. Im Schutz einer Baumgruppe warteten sie eine Weile ab, und als sich nichts rührte, griff Benni ihre Hand und zog sie mit sich. „Los! Zur Garage.“
Kati riss sich los und folgte ihm langsamer und mit einigem Abstand. Sie wusste, dass die Garage immer abgeschlossen war. Benni hantierte an dem massiven Vorhängeschloss herum und zog einen der breiten Torflügel auf. Drinnen war es dunkel. Schemenhaft erkannte sie die Umrisse eines Wagens mit ausladenden Kotflügeln, der aussah wie in einem alten Gangsterfilm.
„Was soll ich hier?“, fragte sie argwöhnisch.
„Komm schon“, sagte er und ging vor. „Ist wegen Fadista.“
Sie folgte zögernd, aber neugierig darauf, was dieses Unternehmen mit dem Hengst zu tun haben sollte. Benni zog das Tor heran, und sofort umfing sie die Dunkelheit. Nur durch den Spalt zwischen den
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