Flandry 6: Schattenwelt
Händler, Ingenieure, Industrielle und gelegentlich sogar Raumfahrer gedeihen sie und sind im Großen und Ganzen zufrieden mit ihrem Los.
Der Kosmos der Lannach hingegen zerfällt. Entweder muss der Große Schwarm primitiv, arm und machtlos bleiben, ewiger Spielball des Sturms und ewiges Opfer des Hungers, der Piraten und der Krankheit, oder er muss modern werden – einschließlich allem, was das umfasst, auch der Notwendigkeit, sich den Preis der erforderlichen Kapitalgüter zu verdienen. Wie aber soll das gehen bei einem Volk, das die Hälfte seines Lebens auf Wanderschaft verbringt, in der Paarungszeit sich befindet oder von der sommerlichen Großzügigkeit der Natur lebt? Dennoch gründet sich nicht nur das gesamte politische System der Lannach auf diesen uralten Zyklus, sondern ebenfalls Religion, Moral, Tradition und Identität. Man stelle sich eine Gruppe von Menschen vor, die seit langem in einem Teil Terras leben, der sich nicht verändert hat, fromme Kirchgänger, für die der Preis des Fortschritts darin bestehen soll, dass sie jedes Überbleibsel der Vergangenheit zerstören, sich zum Atheismus bekennen und zu Homosexuellen werden, die sich exogen fortpflanzen. Für viele, wenn nicht sogar alle Lannachska ist die Lage nahezu genauso extrem.
In unzähligen Varianten ereignet sich auf dem ganzen Planeten das gleiche Drama. Doch gerade weil der Große Schwarm sich mehr als andere Nationen seiner Art geändert hat, spürt er den Schmerz am schärfsten, ist sich am meisten uneins und am verbittertsten über das äußere Universum.
Es ist kein Wunder, wenn revolutionäre Lösungen gesucht werden, wirtschaftliche, gesellschaftliche, spirituelle Abspaltung, Rückkehr zur Lebensweise der Ahnen; Protestrufe gegen die ›Diskriminierung‹, Forderungen nach ›Gerechtigkeit‹, Hilfe, Unterstützung, Sonderbehandlung aller Art; politische Separation, keine weiteren Steuerzahlungen an die planetare Friedensbehörde oder das Imperium; Machtergreifung über die gesamte Welt, Einrichtung einer souveränen Autarkie – sie gehören zu den unvernünftigeren Ideen, die im Umlauf sind.
Außerdem gibt es den Alatanismus. Die Ythrianer, die nach interstellaren Maßstäben nicht allzu weit entfernt leben, besitzen ebenfalls Flügel. Sie sollten mit ihren fliegenden Brüdern auf Diomedes stärker sympathisieren, als eine zweibeinige Spezies es je könnte. Sie besitzen ihr eigenes Reich, die Domäne, sind frei gegenüber dem Imperium und Roidhunat und beiden gleichermaßen fremd. Wäre es nicht ihre Pflicht und Bestimmung, Diomedes aufzunehmen?
Dass nur wenige ythrianische Führungspersönlichkeiten von Diomedes gehört haben und keine auch nur das geringste Interesse an einem Kreuzzug zeigt, bleibt unbeachtet. Wer mystische Zusammenhänge sieht, reagiert selten auf Tatsachen. Sie sind Instrumente, auf denen man spielen kann …«
Zweimal war die Sonne hinter dem Gebirge hervorgekommen und wieder dahinter verschwunden.
»Auf Wiedersehen also«, sagte Kossara.
Flandry fand keine besseren Worte als: »Auf Wiedersehen. Viel Glück«, die rau dem Gewahrsam seiner Kehle entschlüpften.
Sie betrachtete ihn einen Augenblick lang, während sie im Vorraum standen. »Ich glaube, das meinen Sie ernst«, flüsterte sie.
Unvermittelt küsste sie ihn, ein kurzes Streifen der Lippen, das wie die Druckwelle einer Explosion zu seinem Herzen vorstieß. Sie zog sich zurück, ehe er reagieren konnte. Einen weiteren Augenblick stand sie starr vor ihm, auf dem Gesicht eine Miene der Bestürzung über ihr eigenes Tun.
Sie wandte sich um und drehte den Griff der inneren Schleusentür. Flandry tat einen Schritt näher. »Nein«, sagte sie. »Sie können dort draußen nicht überleben, erinnern Sie sich?« Sie hingegen war schon vor ihrem Aufbruch von Dennitza vorbereitet worden und schloss vor ihm das Schleusentor wieder. Flandry blieb auf der Stelle stehen. Pumpen tuckerten, bis die Messgeräte anzeigten, dass die Kammer hinter der Tür nun mit diomedanischer Luft gefüllt war.
Die Außentür öffnete sich. Flandry beugte sich über einen Bildschirm. Kossaras kleines Abbild trat auf den Berghang. Auf sie wartete ein Wagen. Sie stieg hinein und schloss die Tür. Eine Minute später stieg er auf.
Flandry ging zur Steuerkanzel, wo sich die Terminals seiner stärksten und empfindlichsten Geräte befanden. Der Wagen war über den Wolken verschwunden. »Pip-ho, Chives«, sagte er tonlos. Eine Luke schwang auf. Das zweite
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