Flaschendrehen: Roman (German Edition)
Leser auf Filme neugierig zu machen, Schauspieler zu entdecken, Regisseure zu begreifen, all das übte einen nicht nachlassenden Reiz auf mich aus. Sarah oder Rudi mochten zwar Filme und Kino, konnten aber nicht begreifen, wie man sich freiwillig für knapp zehn Tage von morgens bis abends in dunkle Kinosäle setzte, um unbekannte, teils skurrile Filme meist mit Untertiteln anzuschauen. Ben war der Einzige, der meine Leidenschaft teilte und mich um diesen Job beneidete. Wann immer ich einen Film sehen wollte, der im Kulturkino lief, konnte ich sicher sein, mit Ben allein zu sein, denn nicht einmal Livs Liebe oder Eifersucht reichten aus, um sich dreistündige mongolische Wüstenfilme mit Untertitel anzuschauen. Anfangs war sie als Wachhund mitgekommen, aber nachdem sie regelmäßig schon nach der Titelmusik einschlief, sah selbst sie ein, dass sie sich den Kinobesuch sparen konnte. Aus ihrer Sicht konnten Filme dieser Art keine sinnlichen oder erotischen Spannungen aufkommen lassen, höchstens pure Langeweile!
Clemens hingegen, der immer offen für neue Reize und Themen war, sah gebannt auf die Farbenpracht und visuelle Vielfalt, die der Film bot, abgesehen von der auf mehreren Ebenen erzählten Liebesgeschichte.
Perfekt, er ist einfach perfekt, dachte ich, als ich ihn kurz von der Seite musterte, und musste, ohne es bemerkt zu haben, diesen Satz laut gesprochen haben.
»Ich finde den Film auch umwerfend!«, flüsterte Clemens und sah mich begeistert an.
Ich lächelte zurück und nahm mir vor, meine Gefühlseruptionen mehr unter Kontrolle zu behalten.
Der Film erhielt geradezu frenetischen Beifall und »Bravo«-Rufe, was zum einen daran lag, dass er wirklich gut war, aber auch, dass alle noch frisch ausgeruht und sozusagen heiß auf die Leinwanddarstellungen waren. Meistens gab es nach fünf bis sechs Tagen bei allen Beteiligten ein kleines Tief, was auch die Veranstalter wussten, die an diesen Tagen strategisch günstig den ein oder anderen Knaller, auf den alle gespannt warteten, platzierten.
Ich hätte den ganzen Tag mit Clemens dasitzen und Filme gucken können, aber es gab, zumindest für Clemens, auch noch jede Menge anderes zu tun.
»Gretchen, ich treffe mich gleich mit dem Verleiher der Filmpool, danach bin ich zum Lunch mit den englischen Kollegen der Cinema verabredet, und heute Nachmittag habe ich ein Treffen mit Vertretern der Landesmedienanstalten. Ruf mich an, wenn du fertig bist, dann treffen wir uns im Hotel und gehen gemeinsam zur Premiere von Empire , okay?«
Auch wenn mir das nicht passte, er hatte nun einmal seinen Job und ich meinen. »Na klar, viel Spaß, bis später«, sagte ich und lächelte so relaxed wie möglich, gleichzeitig dachte ich daran, wie wichtig es war, nicht zur Klette zu mutieren. Je länger die Leine, desto treuer der Hund.
Der Tag – zwei weitere Filme hatte ich angesehen – verging so schnell, dass ich gar nicht bemerkte, dass der Nachmittag bereits in den Abend überging. Schleunigst lief ich um sechs Uhr zum Hotel, um mich für Clemens in Schale zu werfen.
Er war bereits im Hotel und saß im Garten, mit einer auffällig schönen Frau in ein Gespräch vertieft. Die schöne Fremde, ich schätzte sie auf Anfang vierzig, hatte einen Festival-Pass um den Hals baumeln, also musste sie ebenfalls beruflich hier sein. Als Clemens mich sah, winkte er mich zu sich heran und stellte mich vor.
»Chris, das ist Gretchen, meine beste Mitarbeiterin bei der Phosphor . Sie schreibt die spannendsten und unterhaltsamsten Kritiken, die du dir vorstellen kannst. Chris ist Herausgeberin der Central Park und betreut die New Yorker Dependance.«
Chris lächelte mich gewinnend an und entblößte dabei ein perfekt gepflegtes und geformtes Gebiss. Chris war Deutsche mit einer amerikanischen Mutter und von jeher gewohnt, zwischen Deutschland und New York zu pendeln. Sie besaß das typische Selbstbewusstsein einer New Yorkerin, gepaart mit europäischer Klasse und deutscher Höflichkeit. Ich fand sie sofort sympathisch, nicht nur weil ich ihr Hochglanzmagazin Central Park jeden Monat verschlang, sondern weil sie eine natürliche, unaufgesetzte Art hatte, die mich sofort für sie einnahm. Clemens und sie kannten sich noch von einem Auslandsjahr, das Clemens an der Bostoner Uni verbracht hatte, sie waren sozusagen alte Freunde. Das Einzige, was mich leicht irritierte, war, dass Clemens mich als Mitarbeiterin vorgestellt hatte. Zwar waren wir beruflich in Venedig, aber wenn Chris eine alte
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