Flaschendrehen: Roman (German Edition)
küsste Clemens zärtlich meinen Nacken und zog mich ungeduldig die letzten Meter zur Suite. Wir waren berauscht.
Wenn man sich für die letzten Lebensminuten eine Filmszene aussuchen dürfte, wäre es diese, und zwar auf Dauerschleife.
Am nächsten Morgen schaltete sich der Radiowecker um neun Uhr mit klassischer Musik ein. Clemens schlief noch, also stand ich auf, ging zum Fenster und genoss den überwältigenden Ausblick auf das offene Meer. Leise ging ich ins Bad, duschte, cremte mich ein, zog Unterwäsche an und versuchte, Clemens sanft zu wecken, der immer noch regungslos auf dem Bauch lag.
Zärtlich begann ich, seinen Rücken zu küssen und zu massieren, und erntete ein zufriedenes Gemurmel. Doch bevor ich mich versah, drehte er sich um, sah plötzlich recht wach aus und ließ seine Hand mit eindeutiger Absicht meine Beine hinaufwandern.
»Ich hab gerade meine Beine eingecremt, jetzt hast du bestimmt ganz fettige Hände«, sagte ich kichernd.
Clemens fackelte nicht lange.
»Weißt du, da halte ich es doch einfach mit Casanova, der hier in Venedig kein Unbekannter war und der zu Recht sagte: ›Die Beine einer Frau sind das Erste, was ich beiseite schiebe, wenn ich ihre Schönheit beurteilen will‹.« Sprach’s und begann da, wo wir heute früh erschöpft aufgehört hatten.
Hormontrunken und mit liebesweichen Knien machten wir uns etwas später auf zum Frühstück, das uns im wunderschönen Garten mit altem Baumbestand serviert wurde. Normalerweise brachte ich keinen Bissen hinunter, wenn ich frisch verliebt war, aber mit Clemens war das anders. Ich genoss die ofenfrischen Croissants, das kurz vor dem Servieren zubereitete Rührei mit Schnittlauch, den süßen frisch gepressten Orangensaft und natürlich den unvergleichlich schmeckenden italienischen Kaffee.
Als das Angenehme an der Biennale befand ich mal wieder, dass sie morgens ohne Hektik startete und somit auch ohne unausgeschlafene, schlecht gelaunte Journalisten – in Cannes und Berlin sahen die morgendlichen Gesichter ganz anders aus. Nur für manche deutsche Kritiker konnte die, sagen wir mal, lässige Art der Italiener einen erhöhten Blutdruck bedeuten, denn entweder gab es zu wenig Personal, das rechtzeitig die Kinosäle öffnete, oder die Öffnungszeiten wurden aus anderen nicht offensichtlichen Gründen nach hinten verschoben, was zur Folge hatte, dass der sorgsam ausgearbeitete Plan, welchen Film man zu welcher Zeit in welchem Saal schauen konnte, zunichte gemacht wurde, was jedes Mal zu großer Aufregung führte. Da es nicht meine erste Biennale war, wusste ich diese unplanbaren Verspätungen einzurechnen, am Ende hatte ich es bisher immer geschafft, alle Filme zu sehen, und die bezaubernde Atmosphäre entschädigte zudem für solch nichtige Unannehmlichkeiten.
»Wir sollten langsam los, wir müssen uns noch akkreditieren«, unterbrach Clemens meine Gedanken und stand auf. Gemütlich schlenderten wir zum Casino, dem zentralen Gebäude zwischen Pala Galileo und Mussolinis Gedächtnisbau. Im Casino waren Pressebüro und Akkreditierung untergebracht. Wir brachten die üblichen Sicherheitsfragen hinter uns, mit welcher Luftgesellschaft man geflogen war und in welchem Hotel man wohnte, nahmen unseren Pass mit Schwarz-Weiß-Foto entgegen und reihten uns in die Schlange vor dem Pala Galileo ein, um den ersten Film des Tages zu sehen. Im Pala Galileo wurden ab morgens die Hauptfilme, die an der Biennale teilnahmen, für Journalisten gezeigt, abends dann noch mal im Mussolini Festivalkino als Galavorstellung mit rotem Teppich und Pomp. Das Pala Galileo sah von außen wie eine Blechhütte aus den späten Siebzigern aus, aber von innen war es ein Erlebnis. Ungefähr eintausendfünfhundert Zuschauer passten in den großen Saal, dessen Stuhlreihen muschelförmig aufgereiht waren.
Mit der für Venezianer typischen Verspätung wurde der Saal geöffnet, um den ersten Film des koreanischen Regisseurs Wong Kar-Wai vorzuführen. Sobald wir saßen und es dunkel wurde, legte Clemens seine Hand auf meinen Schenkel, was nicht gerade dazu beitrug, meine Konzentration zu fördern. Nichtsdestotrotz schaute ich aufmerksam auf die Leinwand und war wieder einmal glücklich, meine Leidenschaft zum Beruf gemacht zu haben. Diese Festivals, auf denen ich lauter neue, ungewöhnliche Filme ansehen durfte, waren ein Grund, weshalb ich meinen Beruf über alles liebte und gegen keinen anderen auf der Welt eintauschen wollte. Die Möglichkeit, neue Talente mitzufördern,
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