Flashback
SEPTEMBER
Inzwischen regnete es stärker, aber wenigstens der Nebel hatte sich verzogen. Im Osten erhoben sich die verschleierten Hochhäuser der Innenstadt von Denver; im Westen säumten die Wohntürme den Fluss; im Süden zeichneten sich die wuchtigen Umrisse des Pepsi Center und des Straflagers Mile High ab; im Norden drängten sich niedrige Bauten um den sechzig Meter hohen Dorn, der die Fußgängerüberführung über die Bahngleise zwischen LoDo und dem Flussviertel verankerte. Tief im Westen und durch die niedrig hängenden Wolken kaum zu erkennen zogen sich die Gebirgsausläufer hin. Die hohen Gipfel glänzten an diesem Morgen durch Abwesenheit.
Das Dach von Keigo Nakamuras zweistöckigem Haus an der Wazee Street hatte nichts Besonderes. Eine Veranda mit einem leicht erhöhten Holzboden war auf zwei Seiten mit einem weinumrankten Gitter abgegrenzt, um den Whirlpool vor neugierigen Blicken zu schützen. In der Nacht vor sechs Jahren, das wusste Nick, war das plätschernde Wasser auf die richtige Temperatur vorgeheizt, aber laut gerichtsmedizinischem Gutachten von den Opfern nicht benutzt worden. An diesem Morgen Mitte September war die Wanne kalt und mit einer schimmelig riechenden gelben Plane bedeckt. Der Gartenteil der Dachanlage war durch mehrere lange Pflanzentröge repräsentiert, die ebenfalls aus Holz waren und die Veranda einfassten. Doch in den letzten Jahren hatte hier oben niemand
Gärtnerarbeiten verrichtet. Nur noch Unkraut wuchs zwischen den ausgetrockneten Skeletten edlerer Pflanzen.
Ächzend beugte sich Sato vor, um seine polierten schwarzen Schuhe zu binden.
Nick hatte Mühe, sich an die Sicherheitsdetails dieses unscheinbaren Dachs zu erinnern. Wenn ihn sein Gedächtnis nicht trog, gab es unsichtbare Sensorstrahlen in verschiedener Wellenlänge und Lichtwellenleiter, die sich drei Meter hoch um die Kante zogen … Ja, da in den Ecken waren die Pfosten mit den Projektoren und der Ausrüstung …, und überall auf der Teerpappe und dem Kies waren Drucksensoren, die nur in dem erhöhten Verandabereich fehlten.
»Vielleicht ist ein Stabhochspringer von einem Nachbardach rübergehüpft«, brummelte Nick. Sato ignorierte ihn.
Ja, jemand konnte herübergesprungen sein, aber wenn er nicht genau auf der Holzveranda gelandet war, hätten die Drucksensoren die Landung aufgezeichnet. Und das war nicht geschehen.
Aber die Türen …
»Die Türen – wie lang waren die offen?« Diesmal erwartete Nick eine Antwort. »Zweieinhalb Minuten?«
»Zwei Minuten und einundzwanzig Sekunden.«
Nick nickte. Er erinnerte sich noch an seine scherzhafte Bemerkung gegenüber seiner Partnerin Detective Sergeant – inzwischen Lieutenant und Dezernatsleiterin – K. T. Lincoln, dass er in zwei Minuten einundzwanzig Sekunden ein ganzes Dutzend Keigo Nakamuras umbringen konnte.
»Sprich bitte nur für dich«, hatte K. T. geantwortet. »Ich könnte in zwei Minuten und einundzwanzig Sekunden hundert von diesen Scheißkeigos umbringen.«
Nick hatte sich damals gedacht, dass das wahrscheinlich zutraf. K. T. war zur Hälfte schwarz, mehr als zur Hälfte lesbisch, eine säkular orientierte konvertierte Jüdin, die seit dem Untergang Israels im Privatleben nur noch Schwarz trug, eine trotz ihres finsteren
Gesichts schöne Frau und wahrscheinlich der beste und ehrlichste Cop, mit dem er je zusammengearbeitet hatte. Aus irgendwelchen Gründen hasste sie Japsen.
Nick stand im Regen und betrachtete die unbenutzte Veranda. »Ich glaube, ich habe den Mord gelöst.«
Sato stützte sich auf den Whirlpool und neigte den Kopf, um seine Aufmerksamkeit zu bekunden.
»In den Newsblogs stand doch dieser ganze Quatsch von wegen Geheimnis der verschlossenen Tür«, fuhr Nick fort. »Aber das Zimmer war überhaupt nicht abgeschlossen, als der Mord passiert ist. Keigo hat die untere Tür aufgesperrt, ist die Treppe hochgestiegen, hat die obere Tür aufgemacht und ist aufs Dach rausgegangen. Egal, wo Sie waren – in einem Lieferwagen, in einem Kommandofahrzeug, in einer Drohne –, Sie haben natürlich die Alarmanlage der Türen gehört und wussten, dass er sie geöffnet hat. Daraufhin haben Sie Keigo bestimmt angerufen, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist.«
Sato knurrte.
Doch diesmal wollte sich Nick nicht damit abspeisen lassen. » Haben Sie ihn angerufen? Oder sonst irgendwie Kontakt mit ihm aufgenommen?«
»Wie sagt man, wenn man eine offene Leitung unterbricht, ohne zu sprechen?«
»Rauschsperre«, erwiderte Nick.
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