Flatline
Seifert zog einen Stapel Zettel heran, »Marcel Tonello. Das war vielleicht eine Type. Sah aus wie der Pate persönlich, nur schlanker. Dunkler Nadelstreifenanzug, drei Pfund Gel in den Haaren und mitten im Winter ’ne Sonnenbrille auf. Von dem würde ich kein Haus kaufen.«
»Ja, und?«
»Nix und. Der lag friedlich neben der Bank, die Spritze noch im Arm. Mehr konnte Don Corleone nicht sagen.«
Joshua konnte es nicht glauben. Fixer setzten sich die Spritze nicht in der Öffentlichkeit. Sie gingen dafür in Bahnhofstoiletten, U-Bahnschächte oder sonstige abgeschiedene Örtlichkeiten. Am helllichten Tag mitten in einem Park, das war mehr als ungewöhnlich.
»Wo du gerade hier bist. Wir haben die Briefe durch, die Stachinsky von seinem Vater bekommen hatte. Der letzte enthält einen vielsagenden Satz am Schluss.«
Seifert hielt ihm einen Briefbogen hin. Die Schrift war gleichmäßig, leicht kursiv nach links ausgerichtet. Der Inhalt war lapidar. Thomas Stachinsky berichtete seinem Sohn, das Auto verkauft zu haben, von einer netten Kellnerin, die er am Wochenende kennengelernt hatte und einem angekündigten Unwetter. Unterhalb der Grußformel befand sich noch ein Postskriptum.
Bist du endlich zur Polizei gegangen?
12
Leonard Frantz schenkte seinem Besucher einen Kaffee ein. Es war die merkwürdigste Geschichte, die er in den knapp 30 Jahren als Sachbearbeiter des Düsseldorfer Gesundheitsamtes gehört hatte. Unter normalen Umständen hätte er seinen Besucher mit dem Versprechen, der Sache selbstverständlich nachzugehen, freundlich hinauskomplimentiert. Aber die Umstände waren nicht normal und sein Besucher kein hergelaufener Spinner, der überreagierte, sondern ein angesehener Mediziner, der seiner Meldepflicht nachging.
Doktor Justus Abel betrieb eine alteingesessene und gut gehende Praxis in Kaiserswerth. Im Laufe der Jahre hatte der Facharzt für innere Medizin es geschafft, sich einen ausgezeichneten Ruf zu erwerben. So verwunderte es wenig, dass der überwiegende Anteil seiner Patienten privat versichert war. Verwundert war Leonard Frantz zunächst nur über die finanziellen Möglichkeiten eines Studenten. Als er allerdings hörte, dass es sich bei dem Studenten um den Sohn des vor zwei Jahren verstorbenen Architekten Lothar Lambert handelte, wich der kümmerliche Rest seiner Skepsis einem gesteigerten Interesse.
»Kann es nicht irgendeine natürliche Erklärung dafür geben?«
Frantz spürte, wie sehr diese Frage seine Unsicherheit verriet. Die Überzeugung, mit der der Mediziner sein Anliegen vortrug, war erdrückend. Es blieb kein Raum für Spekulationen.
»Ausgeschlossen. Die Menge der Hepatitis-B-Viren in seinem Blut müsste zwingend eine Leberinfektion auslösen. Ob der Patient diese wahrnimmt, steht auf einem anderen Blatt. Oftmals wird eine solche Erkrankung von Kollegen als grippal eingestuft. Zumeist ist das Immunsystem in der Lage, diese Viren in wenigen Wochen unschädlich zu machen. Allerdings«, Abel nahm einen Schluck Kaffee, bevor er weitersprach, »ließe sich das, wenn auch sehr schwierig, nachweisen.«
Justus Abel erzählte von dem kleinen Forschungslabor, das er sich eingerichtet habe. Mit dem angeschafften Equipment war er in der Lage, Untersuchungen anzustellen, welche die Mehrheit seiner Kollegen externen Laboratorien überlassen mussten.
»Ich hätte in der Leber die Reste von zerstörten Zellen finden müssen, was nicht der Fall war. Sein Immunsystem hat scheinbar keine Antikörper gebildet. Dieser Fall ist äußerst sonderbar.«
Leonard Frantz rieb sich nachdenklich die Stirn. Sie mussten Gideon Lambert zu einer Befragung vorladen. Es galt, herauszubekommen, bei welcher Gelegenheit er sich infiziert hatte. Als er Justus Abel nach der Anschrift des Studenten fragte, erlebte der Sachbearbeiter die nächste Überraschung.
»Die wird Ihnen nicht viel nutzen. Gideon Lambert ist spurlos verschwunden. Ich habe bereits mehrfach versucht, ihn zu erreichen. Heute Morgen war ich bei ihm zu Hause, aber es öffnete niemand. In der Universität war er seit letzten Montag nicht mehr. Ich würde gerne noch weitere Untersuchungen durchführen, aber …« Abel hob hilflos die Schultern.
»Was ist mit der Mutter?«, Frantz’ Frage kam zögernd.
»Frau Lambert ist kurz nach dem Tod ihres Mannes nach Frankreich gezogen. Zuerst nach Paris, aber dort wohnt sie nicht mehr. Ihren jetzigen Aufenthaltsort kenne ich nicht.«
Leonard Frantz spürte eine beklemmende
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