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Ohren zu. Der ohrenbetäubende Lärm des Presslufthammers kam aus der Scheune. Er trat vor die offene Tür und erkannte durch einen Nebel aus Betonstaub seine Mutter. Winkend kam sie auf ihn zu.
»So ein Mist«, schrie sie auch gleich los, »die Fliesenleger haben gar nicht erst angefangen, weil der Estrich zu brüchig ist. Das muss nun alles raus, so ein Mist«, fluchte sie erneut. Seine Mutter trug einen alten Arbeitsanzug ihres Mannes, die Hosenbeine hatte sie hochgekrempelt. Eine feine Staubschicht bedeckte ihren Körper.
»Dein Vater hockt schon den ganzen Tag in der Küche. Der hat vielleicht eine Laune. Geh ihn mal aufmuntern.«
»Ich denke, das wird mir gelingen.«
Gunther Trempe begrüßte seinen Sohn einsilbig. Nach einem knappen Blick durch das Küchenfenster zur Scheune glitten seine Mundwinkel demonstrativ herab. Joshua ging nicht darauf ein. Er legte das Foto vor seinem Vater auf den Küchentisch und setzte sich ihm gegenüber. Gunther Trempe sah es sich an und zögerte. Er benötigte nicht einmal drei Sekunden, um den Mann auf dem Bild zu erkennen.
»Wo hast du das her?«
Die Stimme seines Vaters war leise, seine Worte klangen eisern und bestimmt.
»Es stammt aus dem Zimmer eines Drogentoten.«
Gunther Trempe sah ihn ungläubig an. Er stand auf und holte eine Akte vom Sideboard. Mit einem Griff zog er die Kopie eines Phantombildes heraus. Damals wurden diese Bilder noch gezeichnet. Dennoch war die Ähnlichkeit nicht zu übersehen. Joshua hatte sich die Zeichnung hundertmal ansehen müssen. Er erinnerte sich daran, als er das Foto sah.
»Der Mann heißt Thomas Stachinsky, ich bin ihm heute begegnet.«
»Hast du ihn festgenommen?«
Ungeduldig flogen die Worte aus ihm heraus. Gunther Trempe gierte geradezu nach Antworten auf Fragen, die er sich seit zwanzig Jahren stellte.
»Da kannte ich das Foto noch nicht.«
»Ihr müsst die Ermittlungen wieder aufnehmen, heute noch!«
Joshua nickte nur. Er wollte unbedingt die wahre Todesursache der beiden Studenten ermitteln. Zudem drängte die Staatsanwaltschaft, in dem Fall der Banküberfälle schnellstmöglich zu einem Ergebnis zu kommen. Bornmeier jetzt aufgrund eines Fotos zu bitten, die Ermittlungen eines zwanzig Jahre zurückliegenden Bankraubes neu aufzunehmen, wäre verwegen. Er glaubte nicht einmal, dass es für einen Haftbefehl reichen würde. Sein Vater war anderer Ansicht, er würde es seinem Sohn niemals verzeihen, nicht alles versucht zu haben. Joshua spürte eine unsichtbare Hand auf seinem Rücken. Sie versuchte ihn auf einen Weg zu drängen, den er nicht begehen wollte. Er bot seinem Vater schließlich den Kompromiss an, den Fall noch heute an die zuständige Dienststelle zu melden. Gunther Trempe, der natürlich wusste, dass dieser Bankraub nicht in den Zuständigkeitsbereich des Landeskriminalamtes fiel, stimmte zähneknirschend zu.
Joshua berichtete ihm von seinem Fall. Sein Vater wirkte äußerst interessiert. Die Grippe hatte sich ein wenig gelegt, er trug einen blauen Hausanzug.
»Was macht dich so sicher? Ihr habt zwei Tote mit ähnlichem medizinischem Befund. Ihr glaubt nicht an Drogenabhängige. Aber nehmen wir einmal an, ihr hättet zwei Selbstmordopfer, die zu ihren Lebzeiten unter schweren Depressionen litten, würdest du in dem Fall auch ein Gewaltverbrechen vermuten?«
»Vater, das ist doch nicht zu vergleichen.«
»Vielleicht schon. Das Immunsystem von Drogenabhängigen dürfte enorm geschwächt sein. Da ist es doch kein Wunder, dass sie voller Viren sind.«
»Und wie erklärst du dir die Tatsache, dass diese Viren gentechnisch verändert wurden?«
Joshua verschwieg absichtlich die in dem Bericht von Marburg enthaltenen Konjunktive. Gunther Trempe dachte angestrengt nach. Er strich dabei mit der rechten Hand sein dünnes Haar glatt.
»Du hast doch eben gesagt, womit manche Studenten ihr Studium finanzieren. Sie haben als Probanden für medizinische Tests zur Verfügung gestanden, was die merkwürdigen Viren erklärt. Da ist vielleicht ein Wissenschaftler übers Ziel hinausgeschossen, das macht ihn aber doch nicht gleich zum Mörder! Wie du sagtest, sind die Opfer ja letztendlich auch an einer Überdosis gestorben.«
Joshua war ernüchtert. Er sprach oft mit seinem Vater über aktuelle Fälle. Gunther Trempe ermahnte ihn ständig, die Details nicht aus dem Auge zu verlieren, seine Thesen aus anderen Blickwinkeln zu betrachten, nicht so oft aus dem Bauch heraus zu agieren. Es tat manchmal weh, half
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