Flatline
Die Nucleinsäure, das Basismaterial des Virus, verdoppelt sich und die Proteinbausteine der Hülle werden neu gebildet. Habe ich mich einigermaßen verständlich ausgedrückt?«
»Ja, bis hierhin kann ich Ihnen folgen. Aber Sie erwähnten vorhin etwas von Zellresten, die Sie nicht finden konnten.«
Professor Marburg deutete mit seinem ausgestreckten Zeigefinger in Joshuas Richtung.
»Genau das ist der springende Punkt. Das körpereigene Immunsystem zerstört befallene Zellen, um die Viren gewissermaßen im Keim zu vernichten. Sie fressen die Zelle quasi auf, allerdings nicht ganz. Stellen Sie sich so eine Zelle wie eine Apfelsine vor. Das Fruchtfleisch wird gegessen, die Schale bleibt übrig. Genau die hätten wir finden müssen.«
»Haben Sie aber nicht!«
»Nein. Konnten wir auch gar nicht. Weil es keine gibt!«
Joshua vernahm ein leises Surren im Hintergrund. Die Lamellen hinter dem Fenster drehten sich zur Seite. Sekunden später drangen Sonnenstrahlen in das Büro.
»Bis eben befand ich mich noch in dem Glauben, Ihnen folgen zu können, Herr Professor. Aber das ist mir jetzt zu hoch.«
Der Arzt lachte kurz auf. Joshua hielt seine Argumentation für widersprüchlich, war sich aber nicht sicher, die Ausführungen des Professors richtig verstanden zu haben.
»Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Das ging uns genauso. Wir haben daraufhin das Genom der Viren untersucht und sind zu einem sensationellen Ergebnis gekommen. Dem Virus fehlt ein Gen, beziehungsweise es wurde ausgeschaltet. Genau dieses Gen ist dafür verantwortlich, dass der Erreger an eine Wirtszelle andockt und sich reproduzieren kann. Das Virus ist also künstlich inaktiviert worden! Es kommt zwar bei der Reproduktion von Viren in etwa jedem zehnten Fall zu Veränderungen des Erbmaterials, aber sicher nicht in dieser Form. Dann wären diese Viren längst ausgestorben.«
Für einige Sekunden wurde es still. Joshua dachte angestrengt nach. Vor einer Stunde hatte er sich gewünscht, ein Motiv für ein Gewaltverbrechen zu finden. Wie sollte er diese Fakten werten?
»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Professor, hat jemand das Opfer vor einer Hepatitis-B-Infektion bewahrt?«
Marburg schüttelte energisch den Kopf.
»Das wäre nicht möglich gewesen. Sperren Sie ein Kaninchenpärchen in einen Stall und kastrieren Sie vorher den Bock. Da können Sie bis zu Ihrer Pensionierung warten, es werden nicht mehr. So ähnlich verhält es sich mit den Viren. Die Erreger sind dem Opfer bereits manipuliert zugeführt worden.«
»Aber warum?«
Joshua hatte den Eindruck, es würden immer mehr Fragen auftauchen, je tiefer er in die Ermittlung eindrang.
»Darum sind wir ja so froh über das Interesse der Polizei. Denn diese Frage brennt uns ebenso unter den Nägeln. Ein vermeintlicher Grund hätte darin liegen können, einen Impfstoff gegen diese Erreger zu entwickeln. Aber diese Methode wurde schon vor etlichen Jahren als erfolglos verworfen.«
Joshua fielen die Sätze von Markus Stachinskys Mitbewohnerin ein. Einige Studenten finanzierten als Probanden für medizinische Testreihen ihr Studium. Dem Protokoll der Krefelder Kollegen zufolge hatte Patrick Schönfeld kurz vor seinem Tod einen Job angenommen, über den er nicht reden wollte. Kleine Zahnräder griffen ineinander. Er brauchte weitere Anhaltspunkte, ein Motiv, das er Bornmeier servieren konnte.
»Wer ist dazu in der Lage, DNA zu manipulieren?«
»Ihr Hausarzt garantiert nicht. DNA vergleichen kann mittlerweile jedes gut ausgestattete Labor. Aber Gene verändern«, Marburg legte die Stirn in Falten, »das können nur die großen Labors und Forschungsinstitute. Genmanipulierte Viren in einen menschlichen Körper …«, Marburg winkte abweisend mit dem rechten Arm, »also da gibt es ganze Kataloge mit Vorschriften und Bestimmungen.«
Er beugte sich vornüber und warf Joshua einen verschwörerischen Blick zu.
»Ich bin mir deshalb hundertprozentig sicher: Diese Erreger sind nicht auf legalem Weg in den Körper des Opfers gelangt!«
Professor Marburg verharrte in einer unbequem aussehenden Sitzhaltung halb über die Tischplatte gebeugt. Den stechenden Blick seiner azurblauen Augen weiterhin auf Joshua gerichtet, schien er eine Reaktion des Kriminalbeamten abzuwarten. Dieser rieb sich gedankenversunken übers Kinn. So gerne er sich der Überzeugung seines Gesprächspartners auch anschließen mochte, es standen immer noch die Obduktionsberichte im Raum. Darin manifestiert war eine
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