Flatline
freien Tisch im Nichtraucherbereich. Die blonde Kommissarin hatte ihre Haare zu einem Zopf gebunden. Die kleinen, leuchtenden Augen hafteten auf seinen. Sie verzog keine Miene und doch stand ein Lächeln in ihrem Gesicht. Ohne seine Augen zu verlassen, nippte sie an dem schwarzen Getränk. Zu seiner Verwunderung fühlte Joshua eine leichte Nervosität, ohne dass es ihm unangenehm war.
»Und?«
Joshua zögerte. Ein kleines, träumerisches Zögern, das dafür sorgte, dass ihre Mundwinkel hochglitten und ihre Lippen ein Lächeln andeuteten. Er zuckte kaum spürbar, bevor seine Antwort kam.
»Ihr müsst die Spurensicherung verständigen. Der Lokführer hat jemanden weglaufen sehen.«
Das Lächeln verflog, ihre Gesichtshaut spannte sich.
»Du willst damit sagen, den hat jemand vor den Zug gelegt?«
»Die Annahme ist nicht abwegig.«
Joshua erzählte ihr ausführlich von seinen Ermittlungen. Erst jetzt wurde ihm deutlich, wie irrsinnig die Hintergründe waren. Die Neugierde war ihr anzusehen. Als er von der Reaktion des Staatsanwaltes berichtete, schüttelte sie ungläubig den Kopf.
»Das könnte sich nach der Aussage des Lokführers ändern.«
Joshuas Gestik verriet seine Bedenken. Wenn er dem Staatsanwalt die Aussage eines Lokführers unter Schock vorlegte, der für den Bruchteil eines Augenblicks irgendjemanden gesehen zu haben glaubte, den er vermutlich nicht einmal ansatzweise beschreiben konnte, würde Bornmeier allenfalls milde lächeln.
»Wenn wir Spuren finden«, antwortete Joshua. »Selbst dann haben wir noch nichts Eindeutiges. Es ist zum Verzweifeln. Alles deutet auf eine Serie von Morden hin und doch haben wir nichts in der Hand.«
»Aber noch ein paar Asse im Ärmel.«
Joshua ließ die Schultern hängen. Natürlich standen noch die Ergebnisse vom BKA und eine Obduktion aus. Andererseits hatte es in wenigen Tagen drei Tote gegeben. Nichts deutete darauf hin, es könnten in absehbarer Zeit nicht mehr werden. Wenn der Verdacht sich erhärten sollte, dass es sich bei den Opfern um Probanden für medizinische Tests gehandelt hatte, wäre zudem die Chance sehr gering, über die Drogenbeschaffung an die Täter zu gelangen.
»Was ist mit den Angehörigen des Jungen. Sind die verständigt?«
Joshua dachte an Kalles Gespräch mit den Eltern von Patrick Schönfeld. Die Todesnachricht eines Kindes zu überbringen, ließ so manchen Polizisten bereits an seine psychischen Grenzen stoßen. Was seine Kollegen mitzuteilen hatten, ging darüber hinaus.
»Der Vater lebt nicht mehr, die Mutter wohnt irgendwo in Frankreich. Unsere Leute versuchen gerade, die Adresse zu bekommen. Seine Wohnung haben wir durchsucht. Einen Abschiedsbrief konnten wir nicht finden. An der Uni beschreiben sie ihn als sehr fröhlichen und aufgeschlossenen Menschen. Der Selbstmord war ein regelrechter Schock für seine Kommilitonen. Niemand hatte damit gerechnet.«
Joshua schluckte hastig den Rest seines Kaffees. Er war aufgewühlt, konnte nicht länger tatenlos abwarten.
»Ich würde mir gerne den Tatort ansehen.«
Serena nickte.
Von einem kleinen Parkplatz im Wald, an dem Jogger ihre Fahrzeuge abstellten, gelangten sie zu den Schienen. Die Luft war diesig wie an einem Novemberabend. Es wurde kalt, die Dämmerung setzte ein. Der Boden war mit einer dünnen Schicht Schnee bedeckt. Auf dem Gleiskörper erkannte Joshua Nummerntafeln der Kriminaltechnik. Der Bahnabschnitt bei Angermund wurde für den Abend gesperrt, der Zugverkehr großräumig umgeleitet. Er reichte Serena seine Hand, als sie den Bahndamm bestiegen. Sie fühlte sich weich und zart an.
Ungefähr einhundert Meter stadteinwärts von der Stelle, an der die kleinen Täfelchen standen, war über dem Gleis eine kleine Brücke zu sehen. Dahinter leuchteten Scheinwerfer die Umgebung aus. Einige Kollegen in weißen Schutzanzügen liefen geschäftig umher. Joshua und Serena gingen über die Bahnschwellen dorthin. Wenige Meter vor der dunklen Betonwand der Brücke befand sich eine weitere Nummerntafel. Die Innenwand der Brücke ließ Blutspritzer erkennen.
»Habt ihr schon was«, fragte Joshua in die Runde. Ein untersetzt wirkender Kollege mit langen, grauen Haaren trat zu ihm.
Robert Marx, wie er sich vorstellte, zauderte.
»Da ist
schon
eine Spur. Die Person hat den Bahndamm direkt hinter der Brücke verlassen.«
Joshuas Augen strahlten den Spurenermittler erwartungsfroh an. Dieser hob abwehrend die Hände.
»Mit Spur meine ich breit getretenes Gras und abgeknickte
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