Flatline
Halme. Ich komme mir vor wie Winnetou. Kurz vor der Straße«, er deutete mit einem Nicken auf die nahe Landstraße, »hat er einen großen Satz auf den Asphalt gemacht. War also wohl kein Spaziergänger.«
»Wieso nicht?«
»Zwischen der Stelle, an der die Grasfläche aufhört, und dem Asphalt der Straße befindet sich ein achtzig Zentimeter breiter Streifen mit lockerer Erde. Dort wäre ein Fußabdruck in hervorragender Qualität zurückgeblieben. Einem Spaziergänger wäre das wohl schnuppe gewesen.«
»Habt ihr nur diese eine Spur?«, wollte Joshua wissen.
»Ja, und auch nur in eine Richtung. In dem Gebiet neben der Unfallstelle gibt es keinerlei Spuren. Dafür können wir die vorhandenen Spuren zeitlich einigermaßen fixieren. Um 18.22 Uhr ist der Unfall passiert. Bis circa 19 Uhr hat es geschneit. Die Schneedecke ist gleichmäßig, ohne Lücken. Das bedeutet, die Person ist vor 19 Uhr hier entlanggelaufen.«
»Gibt es Reifenspuren?«
»Soweit sind wir noch nicht. Die Straße wird gerade gesperrt, wir werden uns gleich darum kümmern.«
Grübelnd sah Joshua sich um. Seine Augen wanderten langsam von der Stelle, an der die Kriminaltechniker die Fußspur sichern konnten, auf dem Schienenstrang entlang bis zu der Stelle, an der Lambert von dem Regionalzug erfasst worden war. Er versuchte, sich die Szene aus Sicht des Opfers vorzustellen. Sofort bildete sich eine Gänsehaut auf seinem Körper.
»Der Lokführer sagte aus, der Mann habe kurz vor dem Aufprall seinen Oberkörper angehoben?«, unterbrach Serena seine Vorstellungen.
Er hat gelächelt, dachte Joshua. Sein letzter Ausdruck auf dieser Welt war ein Lächeln. Warum lächelt ein Mensch in der Sekunde seines Todes?
»Ja, das hat er«, antwortete Joshua immer noch geistesabwesend und ohne den Sinn der Frage zu verstehen.
»Was, wenn der ominöse Unbekannte gar nicht beteiligt war?«
»Er hat sich darum bemüht, keine Spuren zu hinterlassen und war ungefähr zur Tatzeit zumindest in der Nähe des Tatortes. Worauf willst du hinaus?«
»Der Lokführer sah den Mann gerade noch hinter der Brücke verschwinden. Die ist von der Unfallstelle circa 80 Meter entfernt. Für diese Strecke bräuchte er bei dem Gelände mindestens zwanzig Sekunden. Für einen Menschen, der dazu in der Lage ist, seinen Oberkörper anzuheben, sollte diese Zeit ausreichen, sich in Sicherheit zu bringen. Es muss einen Grund dafür geben, weshalb er das nicht tat.«
Er hätte verletzt sein können, der Bericht der Gerichtsmedizin stand ja noch aus, überlegte Joshua. Serena hatte recht, grundsätzlich sollten sie diesen Ansatz verfolgen. Unterwegs zum Parkplatz dachte er intensiv darüber nach. Was war mit den anderen? Über die Umstände, die zum Tod von Markus Stachinsky geführt hatten, war ihnen nicht viel bekannt. Patrick Schönfeld, der Bericht aus Krefeld, er dachte an Kalles letzten Anruf. Das Feuerzeug ohne die Fingerabdrücke des Opfers. Jemand hat seinen Tod vorbereitet. Auch Schönfeld hätte sich also wehren können. Es gab nicht die geringsten Anzeichen eines Kampfes.
Was würde Jack dazu sagen?, ging es Joshua unvermittelt durch den Kopf. Wie an einem unsichtbaren Faden zog der Gedanke das Bild seines Freundes an seinem inneren Auge vorbei. Am meisten machte ihm zu schaffen, dass er nicht mit ihm reden konnte. Seine Gedanken wanderten zu Corinna. Seit der Geburt der Kinder war sie ein Nervenbündel, litt unter Depressionen. Jack kümmerte sich aufopferungsvoll um seine Familie. Kurz bevor er mit der Altherrenmannschaft aus Hamm in den Thailandurlaub aufgebrochen war, hatte Corinna die Kur beendet. Danach war es ihr deutlich besser gegangen, sogar die lange unter dunklen Gefühlen vergrabene Fröhlichkeit war wiedergekehrt. Das Klingeln seines Handys holte Joshua in die Realität zurück. Es war Eugen Strietzel. Der Gerichtsmediziner klang sehr aufgeregt.
»Blut- und Gewebeproben sind bereits auf dem Weg zur Virologie. Ich habe mit unseren bescheidenen Mitteln vermutlich nur die Spitze des Eisberges angekratzt, aber das reicht mir schon«, Strietzel sprach ungewohnt schnell. Er schien völlig aus der Fassung zu sein.
»Der Junge war eine lebende Zeitbombe! Auch wenn es sarkastisch klingt, sein Tod hat vermutlich vielen anderen das Leben gerettet.«
Joshua atmete tief durch. Er kannte den Rechtsmediziner als eher nüchternen Zeitgenossen. Die Leichen auf seinen silbernen Tischen betrachtete er als das, was sie im Sinne des Gesetzes waren, potenzielle
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