Flatline
nicht einzuschätzen. Es ärgerte ihn, nicht besser vorbereitet hierhergekommen zu sein. Die verrinnende Zeit wurde allmählich zum übermächtigen Feind der Ermittlungen. Die beständig ansteigende Spannung ließ ihn immer hektischer agieren.
»Herr Abel, wo waren Sie letzte Nacht zwischen ein und drei Uhr?«
»Im Bett, wo sonst?«
»Ich nehme an, Ihre Frau kann das bestätigen.«
»Nein. Wir haben getrennte Schlafzimmer.«
»Kennen Sie einen Kollegen mit dem Namen Jonas Fahnenbruck?«
Abel strich mit dem Zeigefinger über ein Stück glattrasierte Haut zwischen Oberlippe und Nase. Der Papagei wies noch einmal krächzend auf seine Schönheit hin.
»Ich kannte mal einen Kinderarzt mit diesem Namen. Meines Wissens ist dem Kollegen die Zulassung entzogen worden. Aber das ist schon etliche Jahre her.«
Die Stille nach jedem seiner Sätze kam Joshua merkwürdig vor. Abel fragte nicht nach dem Grund für das Alibi, ebenso wenig hakte er nach, als Joshua ihn nach Fahnenbruckfragte. War es ihm gleichgültig oder hatte er Angst, in Verdacht zu geraten? Joshua verdrängte den Gedanken, kam zum Kern seines Besuches.
»Wofür benötigen Sie Probanden, woran forschen Sie?«
Abel stand auf und nahm einen Schnellhefter von einem Schrank hinter sich. Er reichte ihn Joshua.
»Es handelt sich um eine Anfrage der BeierPharm AG. Die Anfrage richtete sich an das gesamte Netzwerk. Es kam zu Unverträglichkeiten mit einer von diesem Konzern hergestellten Hautcreme. In einem solchen Fall drohen langwierige Gerichtsverfahren. Aufgrund der gebotenen Eile hatte die BeierPharm AG um unsere Mithilfe gebeten. Bei Erfolg ein äußerst lukrativer Auftrag, der es mir gestatten würde, mein Labor zu erweitern.«
»Gehörten Markus Stachinsky oder Patrick Schönfeld zu ihren Probanden?«
»Diese Namen habe ich noch nie gehört.«
»Wurden Ihnen die Probanden ausschließlich über die Agentur von Paolo Barnetta vermittelt?«
Für einen Augenblick erkannte Joshua eine verräterische Unsicherheit bei Abel. Der Arzt zögerte die Antwort eine Sekunde zu lange hinaus.
»Ja. Ich bin sehr zufrieden mit dieser Agentur. Es besteht kein Grund, anderweitig Probanden anzuwerben.«
Völlig unvermittelt wurde die Tür aufgerissen. Frau Abel betrat mit strafendem Blick den Raum.
»Ich habe abgeräumt, das Essen war kalt. Möchtest du noch Nachtisch haben, oder brauchen die Herrschaften länger?«
»Kommst du endlich. Kommst du endlich«, tönte es aus dem Wintergarten. Joshua schluckte ein Lachen runter, um jedwede Eskalation zu vermeiden.
»Ich habe vorläufig keine weiteren Fragen«, Joshua stand auf und reichte Doktor Abel die Hand. Dessen Frau ging wortlos hinaus.
Als Joshua ins Auto einstieg, blendete ihn die Sonne. Der Himmel leuchtete hellblau, lediglich Schneereste an der Bordsteinkante unterdrückten aufkommende Frühlingsgefühle.
Die Aussagen Abels führten ihn nicht weiter. Es war die Sekunde des Zögerns vor seiner letzten Antwort, die Joshua nachdenklich machte. Wäre Abels Antwort wahr, hätte er nicht gezögert. Ihm hätte sofort klar sein müssen, dass Paolo Barnetta die Polizei auf seine Spur geführt hatte. Sollte sein Gefühl richtig sein, überlegte Joshua, ist die Spur PaoloBarnetta kälter als der soeben im Radio angekündigte Nachtfrost.
35
Auf dem Hof begegnete ihm seine Mutter, die gerade damit beschäftigt war, einige Eimer Farbe in die Scheune zu bringen. Joshua half ihr.
»Hat Vaters Laune sich gebessert?«
Die Mundwinkel seiner Mutter glitten herab. Als ob sie die Antwort schon vorher mimisch mitteilen wollte, rollte sie ihre Augen und legte den Kopf bedeutungsvoll in den Nacken.
»Dein Vater ist ein sturer, alter Bock. Ich habe mein halbes Leben seine Launen ertragen, ihm Wünsche erfüllt, ohne dass er sie aussprechen musste. Ständig habe ich meine Belange hinten angestellt, damit der Herr zufrieden war. Damit ist nun Schluss!«
Um ihrer Entschlossenheit besonderen Ausdruck zu verleihen, erhob sie beim letzten Satz ihre Stimme. Joshua konnte sie auch so verstehen. Er ahnte, welche Umstellung es für seinen Vater bedeutete. Ein ungutes Gefühl überkam ihn. Es war die Angst, die Sturheit der beiden könnte sich zu einem handfesten Konflikt steigern. Wenn seinem Vater etwas gegen den Strich ging, war es oft tagelang so, als trüge er eine zweite Haut aus Eis. Die Euphorie seiner Mutter, die Freude und die Begeisterung, mit denen sie ihre Aufgabe anging, würden sie das Eis zum
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