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entscheidender Bedeutung für unseren Fall?«
»Und ob! Dormicum wird in der Anästhesie eingesetzt. Aber auch vor schmerzhaften Eingriffen wie zum Beispiel Nierenspiegelungen. Es schaltet Bewusstsein und Kurzzeitgedächtnis aus. Ein geniales Präparat. Der Patient ist ansprechbar, reagiert auf Anweisungen, bekommt aber nichts mit. Und das Schönste: Hinterher kann er sich an nichts mehr erinnern. Damit kannst du eine Nonne schwängern. Die würde sich vorkommen wie die Jungfrau Maria.«
Joshua mochte den derben Humor des Mediziners nicht besonders. Ihm waren lediglich die Aspekte wichtig, die der Ermittlung dienten. Alles schien sich wie von selbst aufzulösen. Dieses Präparat erklärte, weshalb die Opfer freiwillig zum Tatort gingen. Es erklärte auch die Fingerabdrücke am Spritzbesteck. Der mutmaßliche Täter wurde soeben von zwei dunkel gekleideten Männern in einen Zinnsarg gebettet. Dennoch war das Bild nicht vollständig. Es wies nach wie vor Lücken auf. Wie ist es dem Täter gelungen, die Opfer für seine Versuche zu gewinnen? Warum hatte er sie getötet? Und vor allem: Von wem und warum wurde Fahnenbruck getötet? Die Kollegen der Spurensicherung räumten ihre Sachen ein. Sie versprachen, bis zum Nachmittag einen ersten, vorläufigen Bericht anzufertigen.
Nach dem Mittagessen ging Joshua zur Ballistik. Norbert Klarin schien ihn bereits erwartet zu haben. Der korpulente Kollege mit dem mächtigen, schwarzen Vollbart hielt ihm eine dünne Mappe hin.
»Vermutlich Walther P 38«, murmelte Joshua mit einem Blick auf die erste Seite des Berichtes, »ist das nicht eine alte Wehrmachtspistole?«
Klarin grinste ihn an. Ein Großteil seiner Gesichtszüge blieb hinter dem Bart verborgen. Klarin gehörte aber zu den Menschen, die mit ihren Augen lachen konnten.
»Ja. Sie wurde 1938 entwickelt. Ist aber nicht so selten, wie du vielleicht denkst. 1957 hat die Bundeswehr sie wieder eingesetzt. Allerdings leicht modifiziert. Der Griff wurde aus Leichtmetall gefertigt, was das Gewicht der Pistole um 160 Gramm reduzierte. Der Name wurde ebenfalls geändert, sie hieß nun P 1. Ansonsten ist sie baugleich mit der 38er, daher steht »vermutlich« in meinem Bericht. 1990 hat die Bundeswehr sie durch Waffen von Heckler & Koch ersetzt. Aber es gibt sehr viele Länder, die dieses Modell noch heute einsetzen. Vor allem in Süd-amerika. Übrigens wird die P 38 weiterhin verkauft. Für 850 Euro kannst du sie erwerben.«
»Das dürfte die Sache nicht leichter machen.«
»Nein. Zumal es noch etliche Großväter geben dürfte, die eine P 38 irgendwo auf dem Speicher liegen haben, für schlechte Zeiten.«
»Was ist mit dem Projektil?«
»Haben wir untersucht. Negativ. Die Waffe ist in der Vergangenheit nirgendwo in Erscheinung getreten.«
Joshua bedankte sich für das schnelle Ergebnis. Es dürfte sie kaum weiterbringen, stellte er mit einem Anflug von Resignation fest. Auf dem Flur begegnete er Daniel van Bloom. Der Kollege hatte die Warterei nicht mehr ausgehalten und war zur Kriminaltechnik gegangen.
»Haben sie schon was für uns?«, fragte Joshua.
»Nicht viel außer wilden Flüchen. Sie sagen, dieses Labor sei ein Spurendorado. Allein über zweihundert Fingerprints haben sie gesichert. Einige sind schon abgeglichen. Ein Fingerabdruck, den die KT an der Außenklinke der Seitentür gesichert hat, war in unserer Datenbank.«
Daniel öffnete die Bürotür und winkte Joshua an sich vorbei.
»Der Träger ist allerdings unbekannt. Die Spur wurde nach einem Banküberfall gesichert, der schon zwanzig Jahre her ist.«
Joshua blieb abrupt stehen und blickte seinen Kollegen ernst an. Irgendwann, ziemlich am Anfang seiner Laufbahn bei der Krefelder Mordkommission, hatte Joshua es sich abgewöhnt, an Zufälle zu glauben. So nahm sein Verdacht langsam konkrete Formen an.
Kurz vor dem Schreibtisch zuckte Joshua zusammen. Vor ihm lag das Phantombild, das mithilfe des Taxifahrers angefertigt worden war. Obwohl es sich um einen Computerausdruck in blassen Grautönen handelte, erkannte Joshua das Gesicht sofort. Im Zusammenspiel mit der Fantasie des Ermittlers wirkte es wie ein Farbfoto von ThomasStachinsky. Joshua setzte sich langsam hin, ohne dass seine Augen das Phantombild losließen.
»Haftbefehl?«
Joshua nickte stumm. Karin nahm das Telefon und wählte die Nummer der Staatsanwaltschaft.
Vier Mordopfer in wenigen Tagen, darunter ein Tatverdächtiger. Ein zweiter Fall und alles löste sich im Nichts auf.
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