Flatline
Computergrafik noch einmal genauer. Vor einer Stunde hatte er das Bild mit einem flüchtigen Blick wahrgenommen. Seitdem verfolgte es ihn. Die Sonnenbrille war komplett eingeschwärzt. Die Haare verliefen wie eine seichte Welle über den Kopf. Das Gesicht verfügte über keinerlei Auffälligkeiten, die Haut war leicht gebräunt und spannte sich straff, beinahe jugendlich über die Wangen. Kalle hatte das Alter auf circa 35 Jahre taxiert. Das Phantombild zeigte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Justus Abel. Der Kaffee war abgekühlt, die Bitterstoffe dominierten den Geschmack. Joshua rollte mit dem Stuhl zurück und kippte den Rest in die harte Erde der altersschwachen Palme hinter sich. Das Phantombild fixierend, zermarterte er sich den Kopf. Irgendwo in den Tiefen des Bewusstseins gab es eine Kopie dieses Bildes, davon war Joshua überzeugt. Das kleine, markante Kinn, die eng anliegenden Ohren kamen ihm seltsam vertraut vor. Liebend gerne würde er die Schwärze der Sonnenbrille wegradieren, dem Täter in die Augen sehen.
Welche Rolle spielte Justus Abel, überlegte Joshua. Karin hatte recht. Dass Abel die technischen Voraussetzungen besaß, musste nichts bedeuten. Joshua fiel es schwer, die einzelnen Fäden zu verknüpfen. Konnte Abel Fahnenbruck für dessen Forschung mehr bieten als der Megakonzern BeierPharm AG? Unwahrscheinlich. Joshua malte kleine Kreise auf die Schreibtischunterlage. Der Kreis in der Mitte enthielt den Namen Fahnenbruck. In die äußeren Kreise schrieb er die Namen BeierPharm AG, Abel und Stachinsky. Abel hatte eine Geschäftsbeziehung zum Beier Konzern. Joshua verband die Kreise mit einem Strich. Ebenso zog er eine Linie von Beier zu Fahnenbruck und von dort zu Stachinsky. Das Ergebnis ernüchterte Joshua. Es fehlte eine Reihe Verbindungen, unter anderem die von Abel zu Fahnenbruck. Der Täter musste sowohl Fahnenbruck als auch Stachinskygekannt haben. War das die fehlende Verbindung zu Justus Abel?
Joshua zerknüllte den Zettel und verließ das Büro. Fred Bachmann und Rudolf Selter waren wieder zum BKA zurückgefahren. Die akute Gefahr einer bundesweiten Epidemie bestand aus ihrer Sicht vorläufig nicht, der Fall unterlag somit voll und ganz den Landesbehörden. Joshua beurteilte die Situation dramatischer.
Pille hatte zu einer morgendlichen Lagebesprechung geladen. Während er alle persönlich begrüßte, würdigte er Karin lediglich mit einem angedeuteten Nicken. Ausführlich erläuterte er zunächst die Zusammenfassung der Berichte. Als er das Phantombild ansprach, kam leichte Unruhe auf. Dessen Herausgabe an die Medien war ein zweischneidiges Schwert gewesen. Auf der einen Seite mussten sie so reagieren, um den Täter möglichst schnell zu bekommen. Auf der anderen Seite war er nun gewarnt.
»Der hat sich doch längst abgesetzt«, rief Kalle.
»Wird nicht so einfach. Zoll und Grenzschutz haben das Fahndungsbild«, zweifelte Daniel, »außerdem haben wir seinen Auftrag vereitelt.«
»Du glaubst doch nicht im Ernst, der macht jetzt noch weiter? Das ist ein Profi!«
»Ein Profi hat Auftraggeber«, mischte Joshua sich ein, »an die müssen wir kommen. Da dürfte jetzt jemand sehr nervös geworden sein. Schätze auch, dass es Streit mit dem Täter gibt, der möchte garantiert bezahlt werden.«
Mittlerweile waren sämtliche Blutbanken des Landes in Alarmbereitschaft versetzt worden. Polizisten wurden zum Schutz dorthin beordert. Zusätzlich gingen Warnungen an alle Laboratorien und Pharmakonzerne hinaus. Einen vollständigen Schutz gegen die Verbreitung der Erreger konnte dennoch keiner garantieren. Im Düsseldorfer Labor derBeierPharm AG konnte die Spurensicherung eine ganze Reihe gefährlicher Erreger sicherstellen. Darüber hinaus wurden DNA-Spuren gefunden, die zweifelsfrei von den ersten drei Opfern stammten, sowie Morphium und Dormicum in unüblich großen Mengen. Somit war die weitere Vorgehensweise klar. Karin und Joshua fuhren zur BeierPharm AG. Joshua war davon überzeugt, dass die Hintermänner der Verbrechen irgendwo in diesem Großkonzern zu suchen waren.
Der Besucherparkplatz bot Raum für über einhundert Fahrzeuge. Als Joshua vor dem Eingang den riesigen Turm hinaufblickte, schlugen ihm kleine Hagelkörner ins Gesicht.
Die Dame am Empfang lächelte sie freundlich an. Joshua zückte seinen Dienstausweis und gab an, den Geschäftsführer sprechen zu wollen. Nach einem kurzen Telefonat sah sie die Ermittler bedauernd an.
»Es tut mir
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