Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
Haltung an. »En garde und so weiter!«
»Herrje, Miss Flavia!« Mr. Haskins ließ fallen, was er in der Hand hatte, und legte die Hand dorthin, wo vermutlich sein Herz schlug. »Du hast mir ja einen schönen Schrecken eingejagt!«
Ich gestehe, dass ich mir ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen konnte. Einen Totengräber zu erschrecken ist keine leichte Aufgabe, schon gar nicht einen, der trotz seines Alters die kräftige Statur eines Seemanns hatte. Vermutlich lag es an seinen muskulösen Armen, knotigen Händen und leicht gebogenen Beinen.
»Entschuldigen Sie, Mr. Haskins.« Ich zog meinen Regenmantel aus und hängte ihn an den nächstbesten Wandhaken. »Ich hätte beim Hochgehen lieber laut pfeifen sollen. Was ist denn in der Kiste?«
An der gegenüberliegenden Wand stand eine zerschrammte alte Truhe. Der Deckel war offen, und ein Stück Seil, das der Küster hatte fallen lassen, schlängelte sich über den Rand. Er machte ein Gesicht, als hätte ich ihn bei etwas Verbotenem ertappt.
»Da drin? Ach, nur ein Haufen Gerümpel. Alter Kram aus dem Krieg.«
Ich machte den Hals lang.
In der Kiste befanden sich Reste des Seils, eine zusammengelegte Decke, ein halb mit Sand gefüllter Eimer, eine Kübelspritze mit morschem Gummischlauch, noch ein Schlauch, aber aus Kautschuk, eine mit Dreck verschmierte Schaufel, ein schwarzer Stahlhelm mit einem weißen »W« drauf und eine Gummimaske.
»Das ist ’ne Gasmaske.« Mr. Haskins holte das Ding heraus und hielt es mir auf der flachen Hand hin wie Hamlet den Totenschädel. »Die Jungs vom Luftschutz und die Brandwarte haben im Krieg hier oben Posten bezogen. Hab selber manche Nacht hier verbracht. Ziemlich einsam war das. Und ich hab allerhand merkwürdige Dinge gesehen.«
»Zum Beispiel?« Ich hing an seinen Lippen.
»Na ja … Lichter, die über den Friedhof geistern, und so Sachen.«
Wollte er mir Angst machen? »Sie wollen mich wohl veräppeln, Mr. Haskins.«
»Kann sein, kann auch nicht sein, Frolleinchen.«
Ich schnappte mir die groteske, glotzäugige Maske und zog sie mir über den Kopf. Sie stank nach Gummi und schalem Schweiß.
»Huhu, ich bin ein Tintenfisch!« Ich schwenkte meine Fangarme. Durch die Maske hindurch klang es wie: »Huuu, mich in eim Mintenich!«
Mr. Haskins zog mir die Maske ab und warf sie wieder in die Kiste.
»Eine Gasmaske ist kein Spielzeug. Da sind schon Kinder jämmerlich erstickt.«
Er warf den Deckel der Truhe zu, ließ das Vorhängeschloss einrasten und steckte den Schlüssel in die Jackentasche.
»Sie haben das Seil vergessen«, sagte ich.
Er warf mir einen scheelen Blick zu, kramte den Schlüssel wieder hervor, ließ das Schloss aufschnappen und holte das Seil heraus.
»Und jetzt?«, fragte ich erwartungsvoll.
»Jetzt verziehst du dich am besten wieder, Frolleinchen. Wir haben hier zu arbeiten. Du läufst uns nur zwischen den Füßen rum.«
Pfff!
Normalerweise kommt jeder, der mir so etwas ins Gesicht sagt, auf meine Liste für Strychnin-Kandidaten, und zwar ganz weit nach oben. Ein paar Körnchen in die Brotdose oder am besten gleich in den Senf auf dem Schinkenbrot … Letzteres überdeckt sowohl den Geschmack als auch die Konsistenz des Giftes.
Aber halt! Hatte er gerade »wir« gesagt? Wer war »wir«?
Weil ich mich öfter an der Kirche herumtrieb, wusste ich, dass Mr. Haskins üblicherweise allein arbeitete. Er holte sich nur für besonders schwere Arbeiten jemanden zu Hilfe, etwa wenn ein umgekippter Grabstein wieder aufgerichtet werden musste oder wenn jemand beerdigt wurde, der …
»Der heilige Tankred!«, rief ich laut und rannte zur Treppe.
»Halt!«, rief Mr. Haskins mir nach. »Du kannst da jetzt nicht runter!«
Aber ich trampelte bereits die Wendeltreppe nach unten, und seine Stimme verklang hinter mir.
Das Grab des Heiligen wurde geöffnet, und ich sollte nicht dazwischenplatzen! Deshalb hatte mich der Vikar abgewimmelt. Dass er mich allerdings zu Mr. Haskins in den Turm geschickt hatte, war nicht besonders schlau gewesen, aber er hatte ja nicht lange überlegen können.
Blumenschmuck, dass ich nicht lache! Dabei waren sie da unten schon dabei, das Grab aufzubrechen!
Als ich wieder in den Vorraum der Kirche kam, war er leer. Der Vikar und der weißhaarige Fremde waren verschwunden.
Links befand sich der Eingang zur Krypta, eine schwere Holztür im gotischen Stil. Der spitz gewölbte Rahmen erinnerte an eine missbilligend hochgezogene Augenbraue. Ich drückte die Tür auf und stieg auf
Weitere Kostenlose Bücher