Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
alles längst gewusst. »Ich sag’s ja immer: Kindermund tut Wahrheit kund.« Er versetzte dem Seil einen kräftigen Ruck.
Nichts geschah.
»Hilf mir mal, Norman! Tommy, du drückst ein bissel gegen das andere Ende. Mal sehen, ob wir das Biest rumschwenken können.«
Aber obwohl die Männer aus Leibeskräften zogen und drückten, rührte sich der Stein keinen Zentimeter von der Stelle.
»Hat sich wohl verkantet«, knurrte Mr. Haskins. »Verfluchte …«
»Kleine Ohren, Mr. Haskins, kleine Ohren!«, unterbrach ihn der Vikar, legte den Zeigefinger auf die Lippen und deutete mit dem Kinn unauffällig in meine Richtung.
»Jedenfalls klemmt da irgendwas. Ich muss erst mal nachschauen.«
Mr. Haskins ließ das Seil los und nahm Tommy die Taschenlampe ab. Er fasste die Lampe am vordersten Ende und schob sein Gesicht vor die Öffnung in der Wand.
»Das bringt nix«, verkündete er. »Das Loch muss größer sein.«
»Lassen Sie mich mal.« Ich nahm ihm die Taschenlampe aus der Hand. »Mein Kopf ist kleiner als Ihrer. Ich sage Ihnen, was ich sehe.«
Alle waren so verblüfft, dass mich keiner aufhielt.
Mein Kopf passte mühelos durch die Öffnung. Ich verbog mich wie ein Schlangenmensch, bis die Taschenlampe über mir war und in die Gruft hineinleuchtete.
Ein klammer Luftzug strich mir über das Gesicht. Es stank durchdringend nach Moder, und ich rümpfte unwillkürlich die Nase.
Die Grabkammer war vielleicht zwei Meter lang und einen knappen Meter breit. Das Erste, was ich erblickte, war eine Hand. Die verdorrten Finger umklammerten ein zerbrochenes Glasröhrchen. Dann sah ich das Gesicht: eine grausige Fratze mit riesengroßen Glotzaugen und einer rüsselartigen Gummischnauze.
Eine weiße Halskrause bedeckte die tintenschwarzen Adern an Hals und Kehle nur teilweise. Das Ganze wurde von einem Schopf goldblonder Chorknabenlocken gekrönt.
Es handelte sich eindeutig nicht um den Leichnam des heiligen Tankred.
Ich knipste die Taschenlampe aus, zog den Kopf zurück und drehte mich zu Vikar Richardson um.
»Ich glaube, wir haben Mr. Collicutt gefunden.«
4
N atürlich hatten ihn seine Haare verraten. Wie oft hatte ich Feely sonntags durch den Mittelgang bis zur ersten Bank hasten sehen, weil man von dort aus die beste Aussicht auf Mr. Collicutts goldene Locken hatte!
Wenn er in seinem weißen Chorhemd auf der Orgelbank saß, das Haupt von einem morgendlichen Sonnenstrahl umschimmert, der durch das Buntglasfenster fiel, glich er einem lebendig gewordenen Botticelli-Engel.
Und dessen war er sich durchaus bewusst.
Ich sah ihn wieder vor mir, wie er den Kopf zurückwarf und sich mit allen zehn Fingern durch die leuchtenden Locken fuhr, ehe er die Hände zum ersten Choralakkord auf die Tasten fallen ließ. Feely hatte mal gemeint, Mr. Collicutt erinnere sie an Franz Liszt. Vor nicht allzu langer Zeit, so erzählte sie, fand man in den Andenkenschachteln kürzlich verstorbener alter Damen noch die stinkenden Stummel von Zigarren, die Liszt in einem vergangenen Jahrhundert geraucht hatte. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, in Feelys Sachen nachzuschauen, ob sie nicht irgendwo die Korkspitzen von Mr. Collicutts Marke Craven A sammelte, aber dann hatte ich es wieder vergessen.
Das alles schoss mir durch den Kopf, als ich darauf wartete, dass die Männer die Wandöffnung erweiterten und meine Entdeckung bestätigten.
Was nicht heißt, dass ich nicht erschüttert gewesen wäre.
Hatte Mr. Collicutt sterben müssen, weil ich die Mordfälle an den Fingern abgezählt hatte? War er einem unerwarteten bösen Fluch zum Opfer gefallen?
Hör sofort damit auf, Flavia!, schalt ich mich. Der Mann lebte offensichtlich schon längst nicht mehr, als du das Schicksal herausgefordert hast, es möge dir wieder mal eine Leiche zuspielen.
Trotzdem – Mr. Collicutt war tot. Daran war nicht zu rütteln.
Während ich einerseits am liebsten zusammengebrochen wäre und den Tod von Feelys goldblondem Märchenprinzen bitterlich beweint hätte, erwachte zugleich ein anderer, unerklärlicher und bis gerade eben noch tief und fest in mir schlummernder Teil zum Leben.
Ich war zwischen Abscheu und Wonne hin- und hergerissen, gerade so, als schmeckte ich Essig und Zucker gleichzeitig auf der Zunge.
In solchen Fällen gewinnt immer die Wonne die Oberhand. Mühelos.
Eine verborgene Seite reckte und streckte sich neugierig.
Unterdessen hatten die Arbeiter ein paar dicke Bretter angeschleppt, um den schweren Stein herauszuhebeln und
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