Flavia de Luce Halunken Tod und Teufel
Alles Übrige ist reine Spekulation. Nicht, dass man sich persönlich mit der braven Frau ausgetauscht hätte«, fuhr er fort. »Aber ich glaube, sie ist weit und breit dafür bekannt, dass sie … äh …«
»Gern die schmutzige Wäsche anderer Leute wäscht?«, bot ich ihm an.
Er verbeugte sich kaum merklich. »So treffend hätte ich es niemals ausdrücken können.«
Ich konnte mir auf einmal vorstellen, mich in diesen Mann zu verlieben.
»Ich weiß, dass Nicodemus Flitch damals seinen Glauben nach Bishop’s Lacey mitgebracht hat«, sagte ich. »Ich weiß auch, dass es in unserer Gegend noch eine Handvoll praktizierender Humpler gibt und dass sie sich gelegentlich im Gehölz versammeln …«
»… um ihre Taufen abzuhalten.«
»Ja.«
»Das kommt heutzutage vergleichsweise selten vor«, sagte er, »weil es kaum noch Humpler im gebärfähigen Alter gibt.«
Wer mochte das sein? Tilda Mountjoy oder Mrs Pettibone schon mal nicht.
»Ich glaube, die arme Mrs Bull war die Letzte«, sagte Dr. Kissing, und beobachtete mich.
»Mrs Bull?«
War Mrs Bull eine Humplerin?
»Mrs Bull aus der Rinne?«, vergewisserte ich mich. »Der die Zigeuner das Baby gestohlen haben?«
Auch wenn ich selbst nicht glaubte, dass dieser Vorwurf berechtigt war, entschlüpfte er mir, bevor ich mich eines Besseren besinnen konnte.
Dr. Kissing nickte. »Angeblich.«
»Aber Sie glauben das nicht.«
Ich war jetzt hellwach und hing an den Lippen des Alten.
»Nein. Und jetzt möchtest du bestimmt wissen, warum nicht.«
Ich grinste verlegen.
Obwohl der Regen monoton auf den Schirm prasselte, war es darunter erstaunlich still und behaglich. Haus Krähenwinkel kauerte hinter uns wie eine riesenhafte Steinkröte. Hinter einem der hohen Fenster – dort, wo früher einmal der Ballsaal gewesen war – tanzten zwei alte Damen in altmodischen Kostümen ein anmutiges Menuett. Schon bei meinem letzten Besuch bei Dr. Kissing hatte ich dieses Paar beobachtet, aber damals hatten die beiden ihren gemessenen Tanz unter den Bäumen aufgeführt. Jetzt schauten sie zu mir herüber.
Die Kleinere hielt kurz inne und winkte mir mit der behandschuhten Hand, die andere kam fast bis ans Fenster und vollführte einen tiefen, eleganten Knicks.
Als ich mich wieder Dr. Kissing zuwandte, zündete er sich gerade die dritte Zigarette an.
»Letztes Jahr«, sagte er und sah zu, wie der Rauch im Regen verwehte, »war ich noch in der Verfassung, den Kürbiskopf zu erklimmen. Für einen jungen, gesunden Mann ist das ein Spaziergang, für ein Fossil im Rollstuhl dagegen eine rechte Tortur. Andererseits ist für einen alten Mann wie mich sogar eine Tortur eine willkommene Abwechslung, darum wagte ich mich trotzdem an den Aufstieg.
Von dort oben überblickt man die ganze Gegend wie aus dem Korb eines Heißluftballons. Ganz im Nordwesten liegt die Greyminster School, der Ort meiner größten Triumphe und meiner schlimmsten Niederlage. Nach Westen hat man eine wunderbare Aussicht auf das Gehölz und auf Buckshaw, deinen Familiensitz.
Dort im Gehölz war es, wo ich einst um die Hand der liebreizenden Letitia Humphrey anhielt – und ebendort war Letitia so vernünftig, meinen Antrag abzulehnen.«
»Sie hat es bestimmt bereut«, sagte ich galant.
»Ihr war ein langes Leben beschieden – aber bereut hat sie es nicht. Letitia hat einen Mann geheiratet, der ein Vermögen damit verdiente, Weizenmehl mit Knochenmehl zu strecken. Soweit ich weiß, wurden sie miteinander alt und glücklich.«
Eine Qualmwolke verlieh seinem Seufzer sichtbaren Ausdruck.
»Haben Sie es denn bereut?«, fragte ich. Das war indiskret, aber es interessierte mich.
»Dass ich den Kürbiskopf nicht mehr besteige«, erwiderte er, »liegt nicht nur an meiner Unpässlichkeit, sondern eher an dem bedrückenden Anblick, der sich einem von da oben bietet und den man in den niederen Gefilden hier unten nicht so deutlich wahrnimmt.«
»Sie meinen das Gehölz?«
»Es gab eine Zeit, da schaute ich gern auf die Flussbiegung
hinab, wie vom Gipfel meiner Lebensjahre. So auch an jenem Apriltag vor zweieinhalb Jahren, an dem das Kind der Bulls verschwand.«
Mir blieb der Mund vor Staunen offen stehen.
»Von meinem Aussichtspunkt aus sah ich, wie die Zigeunerin ihr Lager verließ. Später sah ich, wie Mrs Bull ihren Kinderwagen durch die Rinne schob.«
»War das nicht eher umgekehrt?«
»Es war so, wie ich sage. Die Zigeunerin spannte ihr Pferd an und fuhr mit ihrem Wohnwagen durch die Rinne in Richtung
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