Flavia de Luce Halunken Tod und Teufel
Großteil des Nachmittags vor uns (»Du warst sehr tapfer beim Anprobieren, Schatz, und hast nicht mal gemuckst, als die beiden Hexen mit ihren Messbändern und Stecknadeln über dich hergefallen sind!«), und so kam Mrs Mullet auf die Idee, mich ins Kino einzuladen, das sie in einer Seitenstraße entdeckt hatte.
Da Mrs Mullet Der Unsichtbare bereits gesehen hatte, stieß sie mir ständig in die Rippen, während sie die ganze Zeit redete und mir den Film von vorn bis hinten erklärte.
»Er kann sie sehen, verstehst du, aber sie können ihn nicht sehen!«
Obwohl ich die Idee des verrückten Wissenschaftlers ganz lustig fand, sich ein starkes Bleichmittel zu injizieren, um sich unsichtbar zu machen, war ich ziemlich entsetzt, wie er mit seinem Handwerkszeug umging.
»Das ist doch nicht echt«, beschwichtigte mich Mrs Mullet, als ich nach ihrem Arm griff, weil auf der Leinwand sämtliche Laborgläser zu Bruch gingen.
Unterm Strich jedoch war der Film, wenn ich an ihn zurückdachte, kein großes Aha-Erlebnis gewesen. Unsichtbar zu sein war für mich nichts Neues. Ich hatte diese Kunst schon an dem Tag erlernen müssen, an dem ich die ersten Schritte getan hatte.
Sichtbar und unsichtbar, zugleich an- und abwesend.
»Jippie!«, grölte ich jetzt, als ich an St. Tankred vorbei und auf die Hauptstraße rauschte.
Am anderen Ende des Dorfes bog ich nach Süden ab. Durch den Regen konnte ich in der Ferne gerade noch den Kürbiskopf ausmachen, einen Felsen, der wie ein Totenschädel aussah und über meinem Ziel, Haus Krähenwinkel, aufragte.
Ich fuhr parallel zur Rinne, aber eine halbe Meile östlich davon, und alsbald radelte ich an einer der großen Wiesen entlang, die sich dort in drei Himmelsrichtungen erstreckten.
Ich war schon einmal im Haus Krähenwinkel gewesen, um Vaters alten Klassenlehrer Dr. Kissing zu besuchen. Ich hatte
ihn im baufälligen Wintergarten des Pflegeheims angetroffen und war nicht sonderlich erpicht darauf, dieses Mausoleum noch einmal zu betreten.
Zu meiner Verwunderung saß der alte Herr, als ich aus Gladys’ Sattel sprang, in seinem Rollstuhl mitten auf dem Rasen unter einem großen, grellbunten Schirm. Er winkte mir zu.
Ich watete durch das nasse Gras.
»Ha! Flavia!«, begrüßte er mich. »Ein Tag, der mir einen jungen Besucher vors Tor spült, kann ein so schlechter Tag nicht sein. Horaz – oder war es Catull?«
Ich nickte, als wüsste ich das natürlich und hätte es nur gerade vergessen.
»Guten Tag, Dr. Kissing.« Ich überreichte ihm ein Päckchen Players, das ich aus Feelys Wäscheschublade gemopst hatte. Feely hatte die Zigaretten gekauft, weil sie bei Dieter Eindruck schinden wollte, aber Dieter hatte lachend abgewehrt: »Nein danke, von den Dingern wird man ja ganz schwach auf der Brust.« Woraufhin sie die Zigaretten ungeöffnet weggelegt hatte, denn Feely bildete sich ganz schön was auf ihre Brust ein.
»Ah!«, machte Dr. Kissing, zauberte ein Päckchen Streichhölzer hervor und strich geschickt ein Hölzchen an, nachdem er die Zigarettenpackung geöffnet hatte. »Das ist ja nett, dass du an meine einzige große Schwäche gedacht hast.«
Er inhalierte tief und behielt den Rauch eine halbe Ewigkeit in den Lungen. Dann atmete er aus und ließ den Blick in die Ferne schweifen.
Ich hatte schon einmal die Erfahrung gemacht, dass eine Unterhaltung mit Dr. Kissing einem Schachspiel glich. Abkürzungen gab es nicht.
»Die Humpler«, machte ich meinen Eröffnungszug.
»Ah ja.« Er schmunzelte. »Ich hab’s gewusst, dass du mich nach den Humplern fragen würdest. Andernfalls wäre ich ernsthaft enttäuscht gewesen.«
Hatten ihm Mr oder Mrs Pettibone etwa von meinem Interesse an diesem Thema erzählt? Unwahrscheinlich.
»Du verdächtigst mich doch nicht etwa, ein Humpler zu sein?«
»Nein.« Ich beherrschte mich und wahrte die Regeln. »Aber Ihre Nichte …«
Mir war gerade erst eingefallen, dass Dr. Kissing ja Miss Mountjoys Onkel war.
»Meine Nichte? Du hast gedacht, Tilda hätte mir erzählt, dass du …? Ach was! Tilda erzählt mir nichts. Mir nicht und auch sonst niemandem. Nicht mal Gott der Herr weiß, was Tildas linke Hand heutzutage so tut.«
Ich machte ein verständnisloses Gesicht.
»Meistens ist die Lösung ganz in der Nähe zu finden«, sagte er.
»Mrs Mullet?«
Dr. Kissing hustete pfeifend, was mich beklemmend an Fenella erinnerte, und zündete sich sogleich die nächste Zigarette an.
»Ja, die geschätzte Mrs Mullet gehört zu deinem nahen Umkreis.
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