Flavia de Luce Halunken Tod und Teufel
geworden war, wie es bei gutem Wetter nie geschah: Es atmete ächzend ein und aus, als sei das alte Gemäuer nach einer Jagd durch die Jahrhunderte mit letzter Kraft ins Ziel getaumelt.
Der Wind verschaffte sich Einlass in die Flure, aus Ecken und Winkeln sprang einen urplötzlich eisige Zugluft an. Trotz seiner Größe war mein Zuhause ungefähr so komfortabel wie ein Unterseeboot.
Ich wickelte mich in eine Decke und stapfte zum Fenster. Draußen rauschte der Regen so senkrecht herunter, als wären die Striche mit Bleistift und Lineal gezogen. Das war kein Regen, der bald wieder aufhören würde – wir durften uns auf verregnete Stunden gefasst machen.
Vater quittierte mein Erscheinen am Frühstückstisch mit knappem Nicken. Wenigstens versprüht er keinen künstlichen Frohsinn, dachte ich und sprach ein stummes Dankgebet.
Daffy nahm mich wie üblich überhaupt nicht zur Kenntnis.
Bei Regen gestaltete sich unser Morgenmahl noch trüber als sonst, und der heutige Tag machte da keine Ausnahme.
Vor knapp vierzehn Tagen war unser Septemberfrühstücksmenü in Kraft getreten, und ich verzog verstohlen das Gesicht,
als Mrs Mullet das auftrug, was ich im Stillen unsere Tagesration T.H.O.D nannte.
T oast
H aferflocken
O rangensaft
D atteln
Die Datteln waren geschmort und wurden mit kaltem Rahm serviert, auch das eines von Mrs Mullets kulinarischen Verbrechen. Sie kamen einem immer so vor, als hätte sie jemand um Mitternacht auf dem Friedhof ausgebuddelt, und genauso schmeckten sie auch.
»Reich mir mal die Leichenteile rüber«, pflegte Daffy mit der Nase im Buch zu sagen, und Vater funkelte sie ärgerlich an, bis ihn die neueste Philatelistenzeitschrift wieder in ihren Bann schlug, was gewöhnlich ungefähr zweidreiviertel Sekunden dauerte.
Heute sagte Daffy jedoch nichts, sondern streckte nur geistesabwesend die Hand aus und schaufelte ein paar Löffel von dem ekligen Zeug in ihre Schüssel.
Feely war noch nicht unten, weshalb ich nicht bis zum bitteren Ende sitzen bleiben musste.
»Darf ich bitte aufstehen?«, fragte ich. Vater brummte nur.
Schon zog ich meinen knallgelben Regenmantel aus dem Wandschrank in der Halle. »Wenn man bei Regen Fahrrad fährt«, hatte mir Dogger eingeschärft, »ist es wichtiger, gesehen zu werden als trocken zu bleiben.«
»Du meinst, trocken werde ich immer wieder, aber niemand kann mich wieder lebendig machen, wenn mich erst mal ein Daimler auf die Hörner genommen hat?«, hatte ich halb im Scherz erwidert.
»Genau«, hatte Dogger mit angedeutetem Lächeln geantwortet und sich wieder Vaters Stiefeln gewidmet.
Es goss immer noch wie aus Kübeln, als ich zum Gewächshaus rannte, wo ich Gladys abgestellt hatte. Gladys mochte keinen Regen, weil dann ihr Schutzblech schmutzig wurde, aber sie beschwerte sich nie.
Ich hatte die Route nach Haus Krähenwinkel sorgfältig geplant, denn ich wollte auf jeden Fall die Rinne und das Haus der schrecklichen Mrs Bull vermeiden.
Als ich in meinem gelben Regenmantel auf der Straße nach Bishop’s Lacey radelte, fiel mir wieder ein, was Dogger zum Thema »gesehen werden« gesagt hatte. Trotz des Nebels, der wie Fetzen schmutzig grauer Wäsche über den aufgeweichten Feldern hing, war ich vermutlich meilenweit zu sehen. In anderer Hinsicht jedoch war ich unsichtbar – weil ich erst elf Jahre alt war.
Einmal hatte mich Mrs Mullet ins Kino mitgenommen, wo Der Unsichtbare lief. Wir waren mit dem Bus nach Hinley gefahren, um ein Festtagskleid zu ersetzen, das Opfer eines hochspannenden, aber leider fehlgeschlagenen Experiments geworden war, bei dem sowohl Schwefelsäure als auch Salzsäure eine gewisse Rolle gespielt hatten.
Nach einer grässlichen Stunde in Eleanors Modeladen, einem Geschäft in der Hauptstraße, dessen Schaufenster mit Papierbändern in scheußlichen Pink- und Aquamarintönen drapiert waren – »Die neuesten Osterkleidchen für junge Damen! «, »Der letzte Schrei aus London!«, »Gerade rechtzeitig zu Ostern!« – , hatte sich Mrs Mullet meiner erbarmt und den Besuch einer nahegelegenen Teestube vorgeschlagen.
Dort hatten wir eine Dreiviertelstunde am Fenster gesessen und den Passanten zugeschaut. Mrs M war ins Plaudern gekommen und hatte mich wohl mit ihrer Freundin Mrs Waller verwechselt; jedenfalls hatte sie mehrere Themen angeschnitten, die mich damals zwar nicht interessiert hatten, sich später aber noch als nützlich erweisen konnten, wenn ich etwas älter sein würde.
Nach Tee und Kuchen lag noch der
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