Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie
Mörder?« Manchmal überrumpelte mich meine eigene Zunge.
Ein unbestimmter Ausdruck glitt über Miss Mountjoys Gesicht wie eine Wolke über den Mond, als hätte sie sich ihr Leben lang auf diese eine Rolle vorbereitet und jetzt, da sie mitten auf der Bühne im Scheinwerferlicht stand, den Text vergessen.
»Diese Jungen«, sagte sie schließlich. »Diese elenden, widerwärtigen Jungen. Ich kann sie einfach nicht vergessen, trotz ihrer Apfelbäckchen und all ihrer zur Schau getragenen Schulbubenunschuld.«
»Und mein Vater war einer von diesen Jungen«, sagte ich leise.
Ihr Blick schien in die Vergangenheit gerichtet und kehrte nur zögerlich in die Gegenwart und damit zu mir zurück.
»Ja. Laurence de Luce. Schnäppi. Das war der Spitzname deines Vaters, Schnäppi. Den hatte er eigentlich bei seinen Mitschülern weg, und doch hat ihn später sogar der Leichenbeschauer vor Gericht so genannt: ›Schnäppi‹. Als er sich in der Verhandlung zur Todesursache äußerte, sprach er den Namen so sanft aus, ja, beinahe zärtlich - als sei er dem ganzen Gerichtssaal wohl bekannt.«
»Hat mein Vater anlässlich dieser Untersuchung ausgesagt?«
»Selbstverständlich. Als Zeuge. Wie die anderen Jungen auch. Das war damals so üblich. Er hat natürlich jegliche Beteiligung oder Mitschuld abgestritten. Eine wertvolle Briefmarke war aus der Sammlung des Direktors gestohlen worden, aber alle riefen nur: ›Nein, Sir, ich war’s nicht, Sir!‹ Als wären der Marke wie durch Zauberei kleine schmutzige Finger gewachsen und sie hätte sich selber stibitzt!«
Ich wollte schon erwidern: »Mein Vater ist aber kein Dieb und auch kein Lügner«, da begriff ich mit einem Mal, dass nichts, was ich dagegenhalten würde, Mrs Mountjoys jahrzehntelang gehegte Überzeugung umstoßen konnte. Also ging ich zum Angriff über.
»Warum haben Sie heute Vormittag den Gottesdienst verlassen?«
Miss Mountjoy fuhr zusammen, als hätte ich ihr ein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet.
»Du nimmst aber auch kein Blatt vor den Mund, was?«
»Nein. Es hatte etwas mit der Predigt zu tun, mit dem Fremden in unserer Mitte, stimmt’s? Mit dem Toten, den ich in unserem Garten gefunden habe.«
»Du hast die Leiche gefunden? Du?«, zischte sie durch die Zähne wie ein Teekessel.
»Ja.«
»Dann verrat mir eins: Hatte er rote Haare?« Sie machte die Augen zu und hielt sie in Erwartung meiner Antwort geschlossen.
»Ja, er hatte rote Haare.«
»Dank sei Dir, o Herr, für Deine Segnungen«, hauchte sie und machte die Augen wieder auf. Diese Reaktion fand ich nicht nur ausgesprochen absonderlich, sondern irgendwie auch ziemlich unchristlich.
»Wie bitte?«, fragte ich.
»Ich habe ihn gleich wiedererkannt«, entgegnete sie. »Nach so vielen Jahren wusste ich gleich, wer er war, als ich diesen roten
Schopf aus dem Dreizehn Erpel herauskommen sah. Und wenn nicht, dann hätten mir sein großspuriger Gang, seine maßlose Überheblichkeit und diese kalten blauen Augen - und zwar jedes einzeln für sich - verraten, dass Horace Bonepenny nach Bishop’s Lacey zurückgekehrt ist.«
Ich begriff allmählich überhaupt nichts mehr.
»Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich unmöglich mit der Gemeinde für die schwarze Seele dieses Jungen - beziehungsweise Mannes - beten konnte.«
Sie nahm mir die Tüte mit den sauren Drops aus der Hand, steckte sich einen in den Mund und den Rest in die Tasche.
»Ganz im Gegenteil«, fuhr sie fort. »Ich bete, dass er inzwischen in der Hölle schmort.«
Damit verschwand sie in ihrer feuchtkalten Behausung und knallte die Tür hinter sich zu.
Wer in aller Welt war Horace Bonepenny? Und was hatte ihn nach Bishop’s Lacey zurückgeführt?
Mir fiel nur ein Mensch ein, den ich womöglich dazu bringen konnte, mir mehr darüber zu erzählen.
Als ich in die Kastanienallee nach Buckshaw einbog, sah ich sofort, dass der blaue Vauxhall nicht mehr vor unserer Tür stand. Inspektor Hewitt und seine Männer waren weg.
Ich schob Gladys hinters Haus. Aus dem Gewächshaus ertönte ein metallisches Scheppern. Ich schaute durch die Tür. Es war Dogger.
Er hockte auf einem umgedrehten Eimer und schlug mit einem Spachtel darauf ein.
Bing … bang … bong … bing, so wie die Glocke von St. Tankred zur Beerdigung irgendeines Greises aus Bishop’s Lacey schlug, pausenlos und unaufhörlich wie Pulsschläge. Bing … bang … bong … bing …
Dogger saß mit dem Rücken zur Tür und konnte mich nicht sehen. Ich schlich mich zur
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