Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie
orangefarben. So ein Orange sieht man sonst nur bei Totenkopfpilzen, kurz bevor ihnen die eigentlich dunkelrote Kappe abfällt. Das Haus lag im Schatten der wehenden grünen Schleier einer gewaltigen Trauerweide, deren Zweige sich unruhig im Wind bewegten und den Boden unter dem Baum blank fegten wie ein Regiment Hexenbesen. Ich musste an ein Musikstück aus dem 17. Jahrhundert denken, das Feely manchmal spielte und sang - und zwar sehr wohlklingend, wie ich zugeben muss -, wenn sie an Ned dachte. Auch darin kam eine Weide vor:
The willow-tree will twist, and the willow-tree will twine, O I wish I was in the dear youth’s arms that once had the heart of mine.
Das Lied hieß The Seeds of Love - Die Saat der Liebe, obwohl ich beim Anblick einer Weide nicht als Erstes an Liebe dachte, ganz im Gegenteil: Weiden erinnerten mich immer an Ophelia (nicht meine, sondern die von Shakespeare), die sich in der Nähe einer Weide ertränkte.
Bis auf ein taschentuchgroßes Rasenfleckchen am Rand füllte Miss Mountjoys Weide den eingezäunten Vorgarten zur Gänze aus. Noch auf der Treppe vor der Haustür war es feucht und klamm. Die herunterhängenden Weidenruten bildeten eine Art grüne Käseglocke, durch die nur wenig Licht drang, wodurch man sich vorkam wie unter Wasser. Leuchtend grünes Moos verwandelte die Treppenstufen in schwammartige Gebilde, Wasserflecken streckten ihre traurigen schwarzen Finger über die orangefarbene Fassade.
Der angelaufene Messingklopfer war die grinsende Fratze eines Lincoln-Kobolds. Ich hob ihn an und klopfte behutsam mehrere Male. Beim Warten schaute ich unschuldig in die Luft, nur für den Fall, dass jemand durch die Vorhänge spähte.
Aber die verstaubte Borte hing so reglos im Fenster, als rührte sich im ganzen Haus kein Lüftchen.
Ein Weg aus abgetretenen Ziegelsteinen führte links am Haus vorbei, und als ich ein, zwei Minuten vergeblich vor der Tür gewartet hatte, ging ich ums Haus herum.
Die Hintertür war hinter langen Weidenruten kaum zu erkennen. Durch die Zweige ging eine wellenförmige Bewegung, eine Art erwartungsvolles Raunen, als könnte sich jeden Augenblick ein knallbunter Theatervorhang heben.
Ich versuchte, durch eine der kleinen Scheiben in der Tür zu spähen. Vielleicht wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte …
»Was machst du da?«
Ich fuhr herum.
Miss Mountjoy stand vor der Weidenkäseglocke und schaute zu mir hinein. Durch die Zweige und Blätter sah ich ihr Gesicht nur in vertikalen Streifen, aber was ich davon erkannte, machte mich leicht nervös.
»Ich bin’s bloß, Miss Mountjoy … Flavia«, sagte ich. »Ich wollte mich bei Ihnen bedanken, weil Sie mir in der Bücherei so nett geholfen haben.«
Die Weidenruten raschelten, als Miss Mountjoy durch den Laubvorhang trat. Sie hielt eine Gartenschere in einer Hand, und sie sagte nichts. Ihre Augen jedoch, die wie zwei blitzende Rosinen in ihrem faltigen Gesicht saßen, ließen meinen Blick nicht los.
Als ich zurückwich, baute sie sich auf dem Gartenweg auf und verstellte mir den Fluchtweg.
»Ich weiß sehr gut, wer du bist«, entgegnete sie. »Du bist Flavia Sabina Dolores de Luce - Schnäppis jüngste Tochter.«
»Sie wissen, wer mein Vater ist?!« Ich schnappte nach Luft.
»Selbstverständlich weiß ich das, Mädel. Wenn man so alt ist wie ich, weiß man eine ganze Menge.«
Ehe ich es verhindern konnte, sprang die Wahrheit aus mir heraus wie ein Korken aus einer Flasche.
»›Dolores‹ ist gelogen«, gestand ich. »Manchmal denke ich mir irgendwas aus.«
Sie machte einen Schritt auf mich zu.
»Was willst du hier?«, flüsterte sie heiser.
Ich griff in meine Tasche und angelte die Tüte mit den Sü ßigkeiten heraus.
»Ich wollte Ihnen ein paar saure Drops bringen und mich entschuldigen, dass ich so unhöflich war. Hoffentlich nehmen Sie meine kleine Versöhnungsgabe an.«
Sie stieß ein pfeifendes Keuchen aus, das ich als Lachen deutete.
»Den Tipp hast du bestimmt von Miss Cool, stimmt’s?«
Wie der Dorftrottel in einer Pantomime nickte ich einige Male übertrieben heftig.
»Es tut mir richtig leid, wie Ihr Onkel - Mr Twining - gestorben ist«, sagte ich und meinte es auch so. »Ehrlich. Ich find’s irgendwie ungerecht.«
»Ungerecht? Na ja, gerecht war es wirklich nicht«, erwiderte sie. »Aber ungerecht würde ich es auch nicht nennen, sondern … Weißt du, was es war?«
»Nein«, erwiderte ich leise.
»Es war Mord. Schlicht und ergreifend Mord.«
»Und wer war der
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