Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie
grobem, schwarzem Karton, die schwarz-weißen Schnappschüsse trugen Unterschriften mit Kreidestift: Harriet (2 Jahre alt) im Morr is House, Harriet (15 Jahre alt) in Miss Bodycotes Höherer Mädchenschule (1930 - Toronto, Kanada), Harriet mit ihrem Flugzeugdoppeldecker namens »Blithe Spirit«, einer de Havil land Gypsy Moth (1938), Harriet in Tibet (1939).
Die Fotos zeigten, wie sich Harriet von einer pummligen Putte mit goldblondem Lockenschopf zu einem großen, schlanken, lachenden Mädchen (ohne erkennbaren Busen) im Hockey-Trikot und schließlich zu einem Filmstar mit blonder Ponyfrisur wandelte, und wie Amelia Earhart neben ihrem Doppeldecker stand, eine Hand lässig auf das Cockpit gelegt. Von Vater gab es kein einziges Foto. Von uns drei Schwestern auch nicht.
Auf jedem Foto sah Harriet aus, als hätte man Feelys, Daffys und mein Aussehen zusammengeschüttet, einmal kräftig durchgerührt und daraus diese selbstbewusst lächelnde und zugleich liebenswert zurückhaltende Abenteurerin zusammengesetzt.
Als ich ihr Gesicht betrachtete und den Versuch unternahm, durch das Fotopapier bis in ihre Seele zu blicken, klopfte es leise.
Kurze Stille … dann klopfte es noch einmal. Und die Tür ging langsam auf.
Es war Dogger. Er streckte zaghaft den Kopf ins Zimmer.
»Colonel de Luce?«, fragte er. »Sind Sie da drin?«
Ich rührte mich nicht und wagte kaum zu atmen. Dogger machte keine Anstalten einzutreten, sondern blickte stur geradeaus, in der abwartenden Haltung des erfahrenen Dieners,
der sich zu benehmen weiß und sich darauf verlässt, dass ihm seine Ohren verraten, ob er erwünscht ist oder nicht.
Aber was hatte er vor? Hatte er mir nicht eben erst erzählt, die Polizei habe meinen Vater mitgenommen? Wie kam er jetzt darauf, dass er ihn in seinem Arbeitszimmer antreffen könnte? War Dogger dermaßen durch den Wind? Oder beschattete er mich womöglich?
Ich öffnete die Lippen ein wenig und atmete langsam durch den Mund, damit mich kein versehentliches Pfeifen der Nase verriet; gleichzeitig sprach ich ein stummes Stoßgebet, dass ich jetzt bitte, bitte nicht niesen musste.
Dogger stand eine halbe Ewigkeit in der Tür wie ein Tableau vivant. Ich hatte in der Bibliothek Stiche von diesem altmodischen Zeitvertreib gesehen, wo man Schauspieler mit Schminke und Puder zutünchte, ehe sie sich zu lebenden, oftmals recht freizügigen Bildern gruppierten, die angeblich Szenen aus dem Leben der antiken Götter darstellen sollten.
Als ich nach einer ganzen Weile hervorragend nachvollziehen konnte, wie sich ein vor Schreck erstarrtes Kaninchen fühlen musste, zog Dogger den Kopf zurück und schloss geräuschlos die Tür.
Hatte er mich gesehen? Und wenn ja, tat er dann jetzt so, als ob nicht?
Ich horchte, aber nebenan war nichts zu hören. Dogger würde sich nicht lange mit Abwarten aufhalten, und als ich fand, dass genug Zeit vergangen war, öffnete ich die Tür und spähte ins Nebenzimmer.
Vaters Zimmer war noch genauso, wie ich es verlassen hatte. Die beiden Uhren tickten vor sich hin, nur dass mir das Ticken jetzt viel lauter vorkam, weil mir der Schreck noch in den Knochen saß. Da mir klar war, dass eine solche Gelegenheit nie wiederkommen würde, fing ich unverzüglich mit der Suche an, indem ich dieselbe Methode anwandte wie in Vaters Arbeitszimmer. Weil aber dieses Zimmer so spartanisch
eingerichtet war, wie ich mir das Feldherrnzelt des Leonidas vorstellte, brauchte ich nicht lange.
Das einzige Buch im Zimmer war ein Verkaufskatalog von Stanley Gibbons für eine Briefmarkenauktion, die in drei Monaten abgehalten werden sollte. Ich drehte ihn um und blätterte ihn durch, aber nichts fiel heraus.
In Vaters Schrank hingen erschreckend wenig Kleider: ein paar alte Tweedjacken mit Lederflicken auf den Ellenbogen (die Taschen waren leer), zwei Wollpullover und mehrere Hemden. Ich fasste in die Schuhe und in ein Paar uralte Soldatenstiefel, entdeckte aber nichts.
Das war bedauerlich, denn sonst besaß Vater nur noch seinen Sonntagsanzug, und den musste er angehabt haben, als Inspektor Hewitt ihn mitgenommen hatte. (Das Wort »festgenommen« wollte ich noch nicht einmal denken.)
Vielleicht hatte er die durchbohrte Penny Black irgendwo anders versteckt - zum Beispiel im Handschuhfach von Harriets Rolls-Royce. Genauso wahrscheinlich war es, dass er die Marke längst vernichtet hatte. Eigentlich war das die logischste Lösung. Eine beschädigte Briefmarke ist wertlos. Ihr Anblick hatte Vater aufgewühlt, und
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