Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie
Schnabel
einer toten Zwergschnepfe hineingebohrt haben könnte. Was hatte Vater daran so erschreckt?
Ich zog die Marke behutsam aus dem Umschlag heraus und betrachtete sie näher. Zunächst einmal hatte Königin Viktoria ein Loch im Kopf. Das mochte zwar nicht sehr vaterländisch sein, konnte aber einen gestandenen Mann wohl kaum derart erschüttern. Nein, es musste etwas anderes dahinterstecken.
Was unterschied diese eine Marke von allen anderen ihrer Art? Hatten Briefmarken nicht Millionenauflagen?
Vor einiger Zeit hatte Vater - in der Absicht, unsere Allgemeinbildung zu erweitern - verkündet, dass die Mittwochabende künftig für eine Reihe von Pflichtvorträgen (der Referent war er selbst) über verschiedene Aspekte des britischen Regierungswesens reserviert seien. »Vortragsreihe A«, wie er sich ausdrückte, sollte sich - wer hätte das gedacht? - mit der »Geschichte der Penny Post« beschäftigen.
Daffy, Feely und ich hatten unsere Notizbücher mit in den Salon gebracht und so getan, als würden wir mitschreiben, wobei wir uns allerdings Zettelchen zusteckten, auf denen »Du bist vielleicht’ne Marke!« oder »Ich kleb dir gleich eine!« stand.
Briefmarken wurden, wie Vater erläuterte, in Bögen zu je hundertundvierzig Stück gedruckt, zwanzig Reihen zu je zwölf Marken, was ich mir leicht merken konnte, da 20 die Ordnungszahl von Kalzium und 12 die von Magnesium ist - ich brauchte mir also nur CaMg zu merken. Jede Marke auf einem Bogen war mit einer unverwechselbaren Kennung versehen, wobei es mit »AA« auf der linken oberen Marke losging und alphabetisch fortlaufend von links nach rechts bis »T L« am rechten Ende der zwanzigsten beziehungsweise untersten Reihe zählte.
Dieses Schema war laut Vater von der Post zum Schutz gegen Fälschungen eingeführt worden, obwohl wir nicht recht begriffen,
wie das funktionieren sollte. Man habe die schlimmsten Befürchtungen gehabt, erzählte er, dass von Land’s End bis hinauf nach John O’Groats ganze Fälscherbanden unermüdlich Tag und Nacht mit der Herstellung von Kopien beschäftigt sein könnten, um Ihre Majestät um jeweils einen Penny zu betrügen.
Ich betrachtete noch einmal die Marke in meiner Hand. Unter Königin Viktorias Kopf stand ON E PENNY. Links davon erkannte man den Buchstaben B, rechts davon den Buchstaben H.
Das ergab: B ONE PENNY, H
»BH«. Demnach stammte diese Marke aus der zweiten Reihe des Druckbogens, achte Reihe von links. Zwo-acht. Bedeutete das irgendetwas? Abgesehen von der Tatsache, dass 28 die Ordnungszahl von Nickel war, fiel mir nichts dazu ein.
Da hatte ich einen Geistesblitz: Es ging gar nicht um eine Zahl, sondern um ein Wort!
BONEPENNY! Und nicht nur einfach Bonepenny, sondern BONEPENNY, H.! - Horace Bonepenny!
Auf den Schnabel einer toten Zwergschnepfe gespießt, stellte die Briefmarke zugleich eine Visitenkarte und eine Morddrohung dar. Und Vater hatte die Drohung auf Anhieb entschlüsselt und begriffen.
Der Vogelschnabel hatte den Kopf der Königin durchbohrt, den Namen des Absenders jedoch unversehrt gelassen - für jeden, der Augen hatte zu sehen.
Horace Bonepenny. Der verstorbene Horace Bonepenny.
Auf dem Hügel zeigte ein morscher Wegweiser - der klägliche Überrest eines Galgens aus dem 18. Jahrhundert - in zwei entgegengesetzte Richtungen. Hinley konnte man entweder über die Straße nach Doddingsley erreichen oder auf der etwas längeren und dafür weniger befahrenen Straße, die durch das Dörfchen St. Elfrieda führte. Ersteres ging schneller, Letzteres
war unauffälliger (falls mich jemand als vermisst melden würde).
»Har-har-har!«, lachte ich voll bitterer Ironie. Wer würde mich schon vermissen?
Trotzdem wandten Gladys und ich uns nach rechts und hielten auf St. Elfrieda zu. Da es nur bergab ging, kamen wir gut voran. Als ich per Rücktritt bremste, gab die Sturmey-Archer-Dreigangschaltung an Gladys’ Hinterrad ein Geräusch von sich wie ein Sack wütender, giftspritzender Klapperschlangen. Ich malte mir aus, ich würde von den Viechern verfolgt, die mir in die Fersen beißen wollten. Es war einfach herrlich! Seit ich damals mittels Extraktion und anschließender Verdampfung aus den Aronstabpflanzen, die im Lilienteich des Vikars wuchsen, ein künstliches Kurare hergestellt hatte, war ich nicht mehr so prächtiger Laune gewesen.
Ich legte die Füße auf den Lenker und ließ Gladys freien Lauf. Als wir den staubigen Hügel hinuntersausten, trällerte ich:
Seht, da kommt sie, munter
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