Fleckenteufel (German Edition)
irgendeinem Gulag im russischen Niemandsland gierig inhalieren. Für ein paar Minuten vergessen die Landser alles Leid und Elend und die erfrorenen Gliedmaßen, das Ungeziefer und die Schläge, die fauligen Kartoffeln und die Demütigungen. Und freuen sich schon auf die nächste Zigarette: «Eine Zigarette, diese letzte Zigarette noch, dann geb ich endgültig auf, dann können sie mich von mir aus totschlagen, aber eine letzte Zigarette …» So hangelten sie sich von Zigarette zu Zigarette, von Schachtel zu Schachtel, von Stange zu Stange, bis Bundeskanzler Adenauer sie endlich rausgehauen hat. Entgegen populären Lehrmeinungen ist Rauchen unter extremen Bedingungen also eine lebensverlängernde Maßnahme. Auch interessant: Schöne Menschen werden durchs Rauchen auf-, hässliche Menschen abgewertet. Starke Menschen werden durchs Rauchen stärker, schwache Menschen schwächer. Außerdem bekommen die Schwachen vom Rauchen gelbe Zähne, bei den Starken werden die Zähne sogar noch weißer. Ist wirklich so.
Egal. Jetzt haben wir erst mal eine Stunde Mittagspause, und ich gehe auf die Terrasse hinter dem Haus, Meer gucken. Der Himmel ist tief und dunstig, bestimmt regnet es heute noch. Herr Schrader sitzt alleine auf einer der beiden Bänke, schaut aufs Meer und raucht eine LUX. Seine derbe, fleischige Nase wirkt noch gewaltiger als sonst, die Augen sind umso kleiner, wie in Aspik eingelegt.
«Tach, Herr Schrader.»
Schrader hebt nur flüchtig die Hand und pult sich Knorpel oder so was aus den Zähnen.
Ich setze mich auf die andere Bank und schaue aufs Meer. Irgendwie unpassend, in meinem Alter aufs Meer zu schauen, eigentlich macht man das erst ab fünfzig oder sechzig. Was kommt als Nächstes? Interesse für Gärten vielleicht, ganz allgemein Flora und Fauna.
Ob Schrader wohl gedient hat?
Schrader zuckte zusammen. Ungefähr ein Dutzend 18-Zentimeter-Granaten detonierten in der Pak-Stellung und zerstörten sie vollständig. Über allem lag giftiger, beißender Rauch. Schmidt war der Bauch geplatzt, er hatte noch mit letzter Kraft versucht, seine Gedärme zurückzuhalten, Petermann hatte der glühend heiße Rückstoß einer Panzerfaust erwischt, er war bis auf die Knochen verkohlt. Schrader erwies den Kameraden einen letzten Dienst und schloss ihnen die Augen. Die dichten Schneeflocken würden die Leichen spätestens bis zum Abend vollständig bedeckt haben. Plötzlich hörte er das Klingeln von Panzerketten, die Vorhut der 3. russischen Panzerdivision. Der verdammte Stalin, wie macht er das bloß, dachte Schrader, immer noch pumpen die Russen neues Menschenmaterial aus den Untiefen ihres Riesenreiches an die Front. Er raffte alle Panzerfäuste, deren er habhaft werden konnte, zusammen und verbarrikadierte sich im letzten noch intakten Abschnitt des Schützengrabens, als in nicht mal fünfzig Metern Entfernung der erste T-34-Panzer durchbrach …
So oder so ähnlich muss es gewesen sein. Schrader zündet sich nervös die nächste Zigarette an, er ist seinem eigenen Redezwang ausgeliefert und braucht dringend jemanden, den er zutexten kann, und wenn es nur ein pygmäenwüchsiger Teenager ist. Ich tue harmlos und schaue gedankenverloren aufs Meer, als würde ich über etwas mit christlichem Inhalt nachdenken. Schließlich hält er es nicht mehr aus.
«Sag mal.»
Ich drehe mich zu ihm um.
«Meinen Sie mich?»
«Meinen Sie mich, meinen Sie mich! Siehst du hier sonst noch jemanden?»
«Nö.»
«Wie gefällt dir das denn hier?»
«Ja, ganz gut.»
«Früher war das viel besser.»
«Ach wirklich, wusste ich gar nicht.»
«Doch, da warn noch die ganzen alten Leude mit. Das war ein ganz anderes Ding. Und der alde Pastor, den kennst du gar nich mehr, stimmt’s?»
An seinem schwabbeligen Mund bilden sich beim Reden riesige Speichelblasen.
«Nee, wie hieß der denn nochmal?»
«Wie, den kennst du nich? Pastor Kümmel, musst du doch kennen! Wie, auch nie von gehört?»
«Doch, ich glaube ja, aber ich weiß jetzt gar nicht.»
«Wie, musst du doch wissen. Egal. Pastor Kümmel lebt jetzt im Heim. Muss man sich mal vorstellen. Reißt er sich sein Leben den Arsch auf für die Gemeinde, und jetzt is er im Heim. Und das wollen Christen sein. Gar nix sind die.»
Nur in seinem eigenen Redeschwall fühlt er sich sicher aufgehoben.
«Mmmh.»
Schrader hält mir die Packung LUX hin.
«Und, was is mit dir? Rauchst du, willst du ’ne Zigarette?»
«Ja, gern.»
Ich nehme eine.
«Das is vernünftig.»
Er reicht mir
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