Flegeljahre am Rhein
Münster. Ein sehr feiner Mensch, ein junger Gelehrter, voll edler Gesinnung, er trinkt nicht und raucht nicht. Er weilt seit einigen Tagen hier in Rheinstadt. Ich weiß von meiner Freundin, daß er sich nach einer lieben Gefährtin für das Leben sehnt. Ich habe ihm durch meine Freundin von unserer Klothilde erzählen lassen. Es ist gar nicht ausgeschlossen, was sage ich, es ist ziemlich bestimmt, daß er sich mit unserem Kinde verloben wird... „
Balduin sagt nichts. Er denkt nur und hört zu. „Du wirst also nicht von Alkohol sprechen morgen nachmittag. Du wirst dich gesittet benehmen. Du wirst etwas schöngeistein. Wenn er kommt — höre zu: Ich werde mit einer Handarbeit beschäftigt sein, Klothilde wird am Klavier sitzen, du wirst ein Buch..., nein, du wirst dort vor dem Bilde stehen und — ach, das ist ja auch nicht das richtige! Du wirst also...“
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„Zehn Uhr — fein, daß die alten Herrschaften noch nicht da sind!“
Hilde, Brunos und seiner Gnädigen hübsche Tochter, sitzt tief im Klubsessel des Herrenzimmers. Ihre Beine hat sie übereinandergeschlagen. Schöne Beine, still verehrt von der ganzen Oberprima. Zwischen den Fingern glimmt eine Zigarette. Hilde ist ganz vertieft in ein Magazin. Schöne Frauen liegen da vor ihr. Attraktive Männer ruhen auf ihrem Schoß und lächeln sie an. Neue Parfüms werden angezeigt. Neue Hüte. Neue Handschuhe. Hilde schwärmt und Hilde sehnt sich.
Hilde war ein halbes Jahr in Paris. Und nun in diesem Nest, in diesem Rheinstadt: Kein Fünfuhrtee, keine Moden, keine Flirts. Statt dessen lächerliche Ansichten braver Spießer... Fatal, daß Vater ausgerechnet in dieses Nest versetzt werden mußte.
Hilde streckt ihre Beine aus. Oh...! Aber leider sind keine Bewunderer da, und Hilde zieht sie wieder an, zupft ihren Rock über die Knie. Da knirscht unten die Haustür. Die Eltern kommen. Was hat man nun vom Leben? Gleich geht man schon schlafen. Man hat wirklich nichts von seiner Jugend
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Willi II hört mit Bangen, daß die Uhr schon zehn schlägt. Verdammt nochmal, es wird höchste Zeit. Daß der Alte auch heute so spät ins Bett geht. Vor fünf Minuten ist in seinem Zimmer erst das Licht gelöscht worden, er kann also unmöglich schon schlafen...
Der Vater von Willi II will nichts davon wissen, daß sein Sohn in Noten vernarrt ist und nur Tangomelodien, Synkopen, Violinschlüssel, verrückte Quinten und einsame Soli, gefallene Baßschlüssel und überspannte Violinbogen im Kopf hat. Der Vater schließt ihm das Klavier ab, verbrennt ihm Notenblätter. Aber Willi II läßt nicht von seiner Musik ab. Daß er mit ihr ein kleines Taschengeld verdienen kann, ist herrlich.
Heute abend soll er wieder in einem benachbarten Dorf, das Kirmes feiert, in einem Gasthaus spielen. Sonntag hat er acht Mark verdient, gestern waren es sieben — und heute? Willi hat seine Schuhe schon ausgezogen, läuft in seinem Zimmer nervös auf und ab... Ob Vater jetzt schläft?
Willi II klinkt leise die Tür seiner Bude auf, horcht in den Hausflur — Stille. Willi II nimmt in die rechte Hand seine Schuhe, in die linke seine Mappe, schleicht hinunter. Vorsicht, die vierte Stufe knarrt, die siebente auch, bei der elften ganz nach rechts treten, dann eine ganz überschlagen...
Willi II kennt die Treppe ganz genau von seinen vielen Schleichwegen. Äußerste Obacht, auf der ersten Etage geht es hart am Zimmer der Eltern vorbei. Das Schloß der Haustür hat er gut geschmiert, die Angeln geölt — alles ist gut eingespielt. Unten zieht er die Schuhe an. Hinter dem Hause wartet sein Rad. Und Willi II fährt ins Dorf zum Tanz.
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„Schon zehn Uhr!“ seufzt Mathilde. „Nun arbeitest du schon seit zwei Stunden. Du mußt dir etwas Ruhe gönnen...“
Tithemi guckt tiefer in sein Buch.
„Störe mich nicht, mein Kind. Du weißt...“ Tithemi studiert neue Verordnungen, Bekanntmachungen im Philologenblatt, notiert Randbemerkungen, malt Fragezeichen neben diesen oder jenen Absatz, setzt entrüstet, mit drei dicken Strichen darunter, ein Ausrufungszeichen neben diesen oder jenen Satz.
Mathilde sitzt am Tisch, unter der großen Lampe, und blättert in dicken Photoalben. Zuweilen geht ein seliges Lachen über ihr Gesicht: dann betrachtet sie ein Bild besonders lange, blättert weiter, sieht glücklich und stolz zu ihrem „Männe“ hin. Sie liebt ihn heute wie damals. Wie einst im Mai, da sie ihn kennenlernte. Ihr zu Füßen liegt Waldi, das Hündchen, und gibt seltsame Laute von
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