Flegeljahre am Rhein
kleinen Arbeitstisch, Kniestockzimmer vierte Etage. Ein Bett, ein Schrank, ein kleines Wasserbecken, auf einer Kiste hochgestapelte Bücher, eine blecherne Keksdose als Aschenbecher.
Man ist doch ein armer Schlucker, wenn man so ganz auf eigenen Füßen steht... Gupp sieht sich in seinen vier Wänden um. Die schmutzige Tapete will ihn erdrücken. Der Boden knarrt unter seinen Füßen. Aus dem Wasserhahn löst sich ein Tropfen, blubbert auf das Blech des Beckens.
Kommt da nicht jemand die Treppe herauf? Die Wirtin...? Die Miete — ich weiß, ich weiß... Nein, die Schritte verlieren sich in einem anderen Zimmer. Morgen bekommt er das Geld von der großen Firma, für die er Reklameschilder gezeichnet hat. Dann wird wieder alles in bester Ordnung sein.
Gupp ist der Senior der Oberprima und schon sechsundzwanzig Jahre alt. Gupp war früher kleiner Schreiberlehrling auf einem großen Büro. Und eines Tages hatte er seinen Hosenboden auf dem hohen Drehschemel durchgesessen. Gupp hatte es satt. Er wollte höher hinaus. Nicht immer Lohntüten schreiben. Nicht immer Briefe adressieren. Nicht immer Marken kleben. Nicht immer „zurückkommend auf...“
„im Besitze Ihres Werten…“
„hochachtungsvoll!“
„bedauern wir es sehr“ — ach, der Teufel soll es holen. Gupp wird sein Abitur machen. Die drei Jahre bis dahin wird er schon schaffen. Und neun Jahre später, nach seinem „Einjährigen“, kehrt Gupp in Rheinstadt ein und auf die Schulbank zurück, nachdem er sich vorher mit seinen sämtlichen Verwandten verkracht hatte.
Gupp heißt eigentlich Jupp. Und Jupp kommt von Joseph. Gupp hat aber damals in der Schule gefehlt, als das „j“ durchgenommen wurde. Gupp kann kein „j“ sprechen. Es ist ein weiter Weg von Gena nach Gerusalem.
☆
Die Kirchenuhr von Rheinstadt hat eben zehn Uhr geschlagen. Der Mond, der sich diskret versteckt hatte, lugt zwinkernd hinter seinem Wolkenschutz hervor. Er wird jetzt auf die Reise gehen. Dann und wann wird er die Augen verständnisvoll zukneifen. Auch der gute alte Mond war einmal jung.
Rote Backen und so viel Sorgen
Vielleicht wären Rosen doch besser gewesen als Astern. Rosen sehen frischer aus, vielleicht auch feierlicher, jedenfalls herzlicher. Aber Rosen sind teurer als Astern. Außerdem halten sie sich gar nicht lange. Astern dagegen bleiben bald vierzehn Tage lang frisch. Nun ja, wenn man die Sache so sieht, dann sind Astern doch ganz entschieden das Beste und Richtigste.
Frau Emma streicht sanft die Astern, die in einer Vase auf dem Festnachmittagstisch stehen. Sie ordnet sie gewiß schon zum sechsten oder siebten Male. Dieser Stengel muß noch etwas mehr über den Rand der Vase ragen, die weiße Aster dort liegt einen Gedanken zu nahe an der blauvioletten — und die Blumenköpfe in der Mitte: schießen die nicht ein wenig zu hoch hinaus? Frau Emma hat gar nicht gewußt, daß Blumenordnen eine so schwierige Angelegenheit sein kann. Jedenfalls dann, wenn sie eine wichtige Aufgabe zu erfüllen haben und Zeuge eines bedeutungsvollen und freudigen Ereignisses sein sollen.
Emma tritt einen Schritt vom Tisch zurück... Ist nun alles in Ordnung? Ja, sie sieht entzückt auf den Tisch. Es ist also alles in Ordnung. Oder doch nicht? Sie geht noch einmal einen Schritt vor.
Spreizt eine Papierserviette, die sie fein zu einem kleinen Fächer geformt hat, noch etwas weiter auseinander. Wendet den Henkel einer Tasse noch etwas mehr nach vorne. Rückt den für diese Tasse bestimmten Stuhl noch einen Gedanken nach rechts... nein, nach links ist besser — so.
Emma tritt wieder zurück, lächelt und blickt stolz auf den Tisch. Ihr bestes Service, ein altes Erbstück, bunt und mit schönen Goldverzierungen, das gerade für vier Personen reicht, hat sie gewählt. Aus einem mit Samt ausgelegten Karton hat sie feine kleine Messer und Gabeln genommen. Man muß etwas tun, wenn lieber Besuch kommt. Emma hat noch mehr getan. Auf einem silbernen Tablett steht ein silbernes Milchkännchen. Und in dem silbernen Milchkännchen ist nicht etwa Milch. Frau Emma hat dafür gesorgt, daß sie ihrem Gast, aber auch sich selbst, allerfeinste Sahne in den Kaffee gießen kann. Sie hat ferner dafür gesorgt, daß der Kaffee heute nachmittag gefiltert auf den Tisch kommt. Frau Emma hat kleine Blumen auf die Tischdecke gestreut, rings um die Vase, aus der die Astern lugen. Der Bereich jeden Platzes ist auf der Decke mit kleinen Blumen abgesteckt, und da liegt noch eine, und dort duftet wieder
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