Flegeljahre am Rhein
kritisch ausgesuchte, klassisch angehauchte, scharf zensierte. Dennoch lacht die ganze Aula. Schlag auf Schlag bemüht sich ein Oberprimaner nach dem anderen mit hartem Schritt von den beiden letzten Bankreihen nach vorne zum Podium. Gamaschke rezitiert Homerverse auf Griechisch. Das ganze pp. Publikum tut gebildet und glaubt, alles zu verstehen. Sogar Emma will merken, daß da einer Griechisch spricht. Willi II sagt an und stürzt sich zwischendurch immer wieder auf die Tasten und improvisiert klassische Melodien.
Jetzt marschiert die ganze Oberprima geschlossen auf zum Sprechchor. Das hohe Lehrerkollegium nickt zufrieden. Schwamm wirft sich in die
Brust. Von ihm haben sie den Sprechchor gelernt! Dann gibt es wieder ein lyrisches Solo von Klothilde. Und dann... und dann...
Tithemi ist einfach sprachlos. Ein richtiger bunter Abend wickelt sich da auf dem Podium ab. Sauerbrunnen und Krischan versuchen ein lustiges Duett. Willi II spielt dazu. Gamaschke hat das „Drehbuch“ geschrieben. Zeus unterhält sich mit Aphrodite über deren Ressort „Liebe“. Am lautesten lacht Hilde. Tithemi dagegen wird ganz ernst. Es ist ihm peinlich, daß seine neunzehnjährigen Oberprimaner... Woher sie das eigentlich wissen?
Hoi tut ganz entrüstet. Zeus so profane Reden führen zu lassen! Das zeugt nicht von sittlicher Reife. Krischan und Sauerbrunnen wird man etwas auf die Finger sehen müssen. Mal abwarten, ob sie morgen auch ihren Tacitus übersetzen können...
Der Film rollt weiter ab. Immer wieder Beifallklatschen. Mit moderner Pädagogik hat das nichts zu tun — na ja, immerhin: Klothilde muß noch einmal vor das Rampenlicht. Rampen sind zwar keine da, aber das Licht, das ihr die Noten beleuchtet, nimmt sich auch ihrer roten Backen an. Oh, wie stolz ist Mama! Könnte das doch auch ihr Balduin erleben!
Wieder marschiert die ganze Klasse auf das Podium und singt dreiundzwanzigstimmig so gut und so schlecht es geht „Strömt herbei, ihr Völkerscharen...“ Nach der ersten Strophe wird das pp. Publikum von Willi II aufgefordert, nach Kräften mitzusingen. Tithemi singt nicht mit. Er überlegt die Abschiedsworte. Das Lied ist aus. Da hat er sie. Er freut sich wieder und dankt. Er bittet und gibt seiner Hoffnung Ausdruck. Er ist stolz und glücklich und so weiter. Wie nun einmal Schlußreden sind.
„Sehr gut, sehr gut, nicht wahr, Herr Doktor?“ — Herr Doktor findet das auch. — „Toll, wie die Kerle das gemacht haben, nicht wahr, Herr Kollege!“ — Herr Kollege stimmt zu. — „So einen Abend müßte man häufiger hier im Gymnasium erleben können!“ — Das meinen alle, die eben geklatscht haben. Alle haben geklatscht. Klothilde hängt sich Mama in den Arm und läßt sich bewundern. Ännchen hat es gar nicht eilig, aus der Aula zu kommen. Gemaschke gibt ihr ein Zeichen. Gupp dagegen ist ganz kühn. Er trifft sich nicht erst draußen auf der Straße mit Klärchen, sondern gibt schon in der Aula seiner Angebeteten die Hand. Jawohl, die ganze Klasse soll es sehen.
Nach Hause gehen? Man denkt nicht daran. Ein angebrochener Abend ist eine halbe Sache. Man macht sie ganz. Das Lehrerkollegium samt Anhang begibt sich in sein Stammlokal „Zum Rebstock“. Wer von den Oberprimanern nicht „minnedienstlich“ verhindert ist, eilt zu Theobald. Gamaschke ist schon auf dem Wege zu der kleinen Laube auf dem Berg vor der Stadt. Wohin Gupp geht, weiß man nicht genau. Gupp liebt keine Indiskretionen. Civilis ist in Nöten, steht am Scheideweg. Bier oder...? Heute abend oder nie! Mut, Civilis! Da stolzieren Bruno und Frau Studienrat, da geht auch Hilde, wie eine kleine Göttin, gesittet am Arm der gnädigen Frau Studienrat. Civilis überholt sie, macht eine tiefe Verbeugung, bleibt wieder stehen, läßt sie an sich vorbei und tut so, als ob er einen Kameraden erwarte. Hilde hat ihn keines Blickes gewürdigt.
So etwas!
Civilis will sich abwenden und zu den Kameraden im „Vater Rhein“ gehen. Da sieht er, da sieht er... Moment mal, will man ihn da foppen oder? Nein, es ist wirklich so: Hilde verabschiedet sich von den Eltern, sie ist müde, sie hat keine Lust mehr zu einem Glas Wein, sie will lieber nach Hause und ins Bett. Frau Studienrat und Bruno gehen in den „Rebstock“. Hilde macht sich schnellen Schrittes auf den Weg.
Civilis überlegt. Also nur Schlauheit den Eltern gegenüber, daß sie midi nicht angesehen hat? Donnerwetter, das ist ein Mädel! Ja — aber weshalb geht sie denn so schnell die Mühlengasse
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