Flegeljahre am Rhein
Hintermann einen kräftigen Stoß in den Rücken. Krischan wird von der Seite angeboxt. Einer pufft den anderen wach. Es dauert ein paar Sekunden, bis alle aufgestanden sind. Bruno überzeugt sich schnell davon, daß sein weißes Tuch in der Brusttasche schön wirkt...
„Morgen, Jungs! Na, das habt ihr ja gestern ausgezeichnet gemacht! Ich freue mich. Ich bin stolz auf euch! Setzt euch!“
Merkt ihr was, Jungs? Tithemi sagt „Jungs“ zu euch und nicht „Sie“. Dann muß er wirklich gute Laune haben. Mathilde hat diese gute Stimmung mit einem besonders starken Kaffee geweckt.
„Die Oberprima hat unsere Anstalt vor einem peinlichen... öh — Reinfall ist zuviel gesagt... öh — Ausfall bewahrt. Ich danke euch! Ich werde das nicht vergessen!“
Gamaschke rechnet schon, daß die Klasse jetzt also wieder ein dickes Pluskonto hat und eine „neue Sache“ vorbereiten kann. Abwarten. Tithemi ist noch nicht zu Ende:
„Etwas allerdings bleibt noch zu klären. Ich habe schon gestern an zwei Ihrer Klasse eine Frage gerichtet und...“
Gamaschke springt auf, nutzt Tithemis gute Laune, fällt ihm ins Wort:
„Diese Frage, Herr Direktor, ist schon auf das genaueste beantwortet! Wir halten sie übrigens für völlig nebensächlich, nachdem der gestrige Abend so erfolgreich verlaufen ist.“
Inzwischen hat sich Tïthemi davon erholt, daß ihm ein Oberprimaner mir nichts, dir nichts in die Rede gefahren ist.
„Schon gut, schon gut!“
Tithemi lacht, unmerklich kaum. Nur sein kleiner Schnauzbart zittert. Er erinnert sich, daß es besser ist, vorläufig zu schweigen. Die Stadt soll nicht erfahren, in der Öffentlichkeit soll man es nicht wissen, daß die Anzeige, daß der Vortrag über moderne Pädagogik... Tithemi zieht es vor, den Gedanken in der Oberprima nicht zu Ende zu denken. Er wird seine Spürnase unauffällig auf die Fährte der Täter setzen. Aber erst einmal eine Spur haben...
„So — Weiterarbeiten!“
Tithemi ist schon hinter der Türe verschwunden. Die Oberprima „arbeitet“ weiter, die Wiederholung wird fortgesetzt.
Zweite Stunde: Erdkunde. Balduin wird wohl noch krank sein. Man kann sich also die Empfangsfeierlichkeiten sparen. Für eine spätere Stunde bei Balduin ist vorgesehen, einen Wecker ins Pult zu stellen, einen zweiten in den Wandschrank, einen dritten in den Kartenbehälter — alle drei müssen im Abstand von wenigen Minuten ablaufen. Weiter ist vorgesehen... Heute wird die Erdkundestunde also ausfallen. Vielleicht kommt Kilian als Vertreter.
Der Krach in der Pause ist heute sehr leise. Der gestrige Abend steckt allen in den Knochen. Man nimmt sogar gleichgültig das Schellen hin. Man akzeptiert sogar... Was ist denn jetzt los? Balduin erscheint, wie ein Geist und völlig unerwartet, auf der Bildfläche. Mit einem dicken Stoß Bücher unter dem Arm, mit einer großen Mappe. Balduin lagt seine Bücher ab. Was ist denn geschehen? Gestern abend krank, und heute morgen wieder auf den Beinen? Das ist doch unmöglich! Balduin, du blamierst dich unsterblich! Tithemi hat doch gestern abend bedauert, daß du... Der dicke Wollschal, den du da um den Hals trägst, beweist nicht, daß du wirklich redeunfähig warst.
Mit tiefem, krähendem Baß liest er aus einem der Bücher vor, daß Kanada britisches Dominion ist und neben den Briten hauptsächlich Franzosen beherbergt. Aus einem anderen Buch doziert er, daß die vielen Tannen- und Kiefernwälder Grundlage des kanadischen Holzreichtums sind. Dann nimmt er ein Zettelchen. Kanada hat 3,5 Millionen Milchkühe und 3,2 Millionen Pferde. Dann zaubert er ein zweites Zettelchen hervor. Kanada fördert in einem Jahre 7,5 Millionen Tonnen Kohle und 13 800 Tonnen Nickel. Ein weiteres Zettelchen. Zwei Überlandbahnen verbinden die pazifische mit der atlantischen Küste. Und wieder ein dicker Band. Kanadas Hauptstadt ist Ottawa. Zwei Drittel des Jahres ist die Hudsonbai vereist. Neues Zettelchen. Neuer Band.
Keiner hört zu. Zum Krachmachen ist die Oberprima heute zu müde. Außerdem darf Gamaschke nicht gestört werden. Er schreibt eifrig. Er überlegt. Er schreibt weiter. Aber nichts von Kanada. Sondern einen Bericht für den „Rheinstädter Anzeiger“ über den Verlauf des gestrigen Abends. Die Rheinstädter, die nicht dabei waren, sollen Augen machen. Gamaschke schreibt und schreibt... Balduin weilt inzwischen in Kanadas Provinz Manitoba und ihren Weizenfeldern. Alles liest er ab. Nichts kann er ohne Bücher und Zettelchen sagen. Kanadas
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