Flegeljahre am Rhein
Jetzt weiß die Klasse, daß sie freudig auf das Ziel zusteuern und arbeiten und beim Abitur keinen der Lehrer enttäuschen wird.
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Wieder stehen die Bänke leer im Gymnasium zu Rheinstadt. Wieder schweigt die Schelle. Wieder hallt nur der Schritt von Fize durch die Gänge. Ferien…
Auf den Bergen liegt Schnee. Über dem Strom hängen düstere Wolken, träge und zerfetzt. Die Schlepper ziehen dahin, dicke Qualmfahnen im Nacken. Die Fähre, die Rheinstadt mit dem anderen Ufer verbindet, gleitet schwer über das Wasser, lautlos und nimmermüde.
Die Fahnenmasten, die über die Bäume der Uferpromenade hinwegragen, stehen kalt und schlank und ohne buntes Tuch, das noch vor Wochen an ihnen flatterte. Die Bänke warten vergeblich auf zärtliche Pärchen. An ihrer Farbe frißt der Schnee und treibt sein Wasser in die Ritzen des Holzes. Dann und wann stampft ein Zug über den Damm und schreckt die Stille der Landschaft auf.
Die Leute, die über die Straße gehen, haben nasse Füße und sprechen von Weihnachten, das nun schon einige Tage zurückliegt.
Heute ist der letzte Tag des Jahres. Die Menschen glauben zu spüren, daß etwas Neues in der Luft liegt.
Auch Balduin merkt etwas. Daß nämlich sein Koffer gar nicht so schwer ist wie er dachte, als Emma ihn packte. Balduin ist auf dem Wege zur Bahn und hat eine weite Reise vor sich. Er muß viele Stunden fahren, ehe er an seinem Ziel ist. Emma hat ihm eine Krawatte geschenkt zu Weihnachten, ein Paar Handschuhe, einen Schal und zwei Paar Socken. Balduin hat all die neuen Herrlichkeiten angezogen. Schließlich verreist er nicht alle Tage. Eine neue Krawatte und ein neuer Schal sind geeignet, die Reiselust zu fördern. Balduins Herz schlägt froh, und seine Beine sagen jetzt nicht mehr O. Weil sie nämlich zum größten Teil von dem langen Mantel verdeckt sind. Balduin wirkt direkt großstädtisch. Wohin mag er nur fahren? Wie gesagt, es ist eine weite Reise, und er muß viele Stunden in der Bahn verbringen. Signal hoch für Balduin! Gute Reise! Und vergessen Sie nicht, die Fahrkarte zu verlieren! „Wie mag das Reiseziel nur lauten?
Wir wollen nicht vorwitzig sein. Ein Studienrat darf fahren, wohin er will. Ein Erdkundepauker hat sogar ein ganz besonderes Recht, zu reisen. Civilis ist sehr verärgert. Wegen Hilde. Weshalb muß sie ausgerechnet jetzt den Schnupfen bekommen und im Bett liegenbleiben? Ausgerechnet jetzt in den Ferien! Eine Gemeinheit ist das, eine Frechheit, ein ganz gemeines Pech. Zum Verrücktwerden ist das. Aber Civilis kann mit seinem Schimpfen den Schnupfen nicht verjagen und seine Hilde nicht aus dem Bett holen. Er macht aus dem Schnupfen eine Tugend, vergißt das, was nicht mehr zu ändern ist, und klemmt sich hinter die Bücher, paukt Mathematik, bereitet sich für Hois Stunden vor. Schaden kann es auf keinen Fall. Vielleicht kann er sein Abitur mit „gut“ bestehen. Aber wenn Hildchens Schnupfen ausgeschnupft ist, dann kann man das nicht mehr so genau sagen.
Es läßt sich auch nicht genau sagen, wie Gupp sich halten wird. Er arbeitet augenblicklich sehr viel. Er zeichnet nicht nur Plakate für das Kino, das jetzt zu seinen besten „Kunden“ zählt — nein, er arbeitet auch für die Schule. Jeden Tag viele Stunden. Verdammt, es muß noch klappen.
Gupp stopft sich gerade eine neue Pfeife. Mit Dampf geht es besser. Der gute Tacitus mag so etwas sehr gerne. Da schellt es. Da klopft es ein paar Sekunden später an seine Zimmertür. Da steckt ein schwarzhaariges Mädchen seinen Kopf durch den Türspalt. Jetzt muß Tacitus weichen. Es wird Gupp wieder ganz klar, daß er noch andere Sorgen hat als Abitur und Reife für das Leben. Sehr große Sorgen sogar. Die Wurst und der Fleischsalat, die sein Herzensschatz ihm mitbringt, helfen nicht darüber hinweg... Kopf hoch, Gupp! Herzensschatz hat nur einen Augenblick Zeit. Klärchen muß gleich wieder nach Hause und im Geschäft helfen. Kolonialwaren und Feinkost. Gupp ist wieder allein. Die Buchstaben des Herrn Tacitus flimmern ihm vor den Augen, grinsen ihn höhnisch an, fallen über ihn her. Sie stellen sich von neuem auf, geordnet in Reih und Glied, und tanzen ihm etwas vor...
Gupp schüttelt den Kopf, bläst ihnen blauen Dunst entgegen. Nun geht doch schon! Was wollt ihr denn eigentlich noch von mir! Ich kann euch nicht mehr brauchen. Ach, was versteht ihr schon von den Sorgen, die ich zu tragen habe!
Muß es wirklich Sorge sein? Wer sagt das denn? Gupp überlegt hin, sinniert her, blickt um
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