Flegeljahre am Rhein

Güte, nicht mit Gewalt. Gupp findet dennoch seine Seelenruhe wieder.
    Nur langsam, das macht sich schon. Er setzt sich wieder — als ob sein Sitzen „echt“ wäre. Erblickt nach oben. Weshalb denn nicht gleich... Da oben, über der Tür, ist ja ein Fenster!
    Gupp schwingt sich hinauf. Kein Erfolg. Er stellt sich auf den unklassischen Thron. Hat Glück und hantelt sich hoch, zwängt sich durch das hochklappbare Fenster, zieht die Beine nach, hat Unglück und trifft das Glas. Scherben fallen. Gupp baumelt zwischen Himmel und Erde. Reißt sich durch, springt ab, lauscht in den Flur. Nichts. Einen Augenblick denkt Gupp nach. Was soll er jetzt tun? Zurück in die Klasse gehen?
    Die Zeit kommt ihm zu Hilfe. Frech und schrill läutet die Glocke durch die Stille der Gänge. Die Stunde ist beendet. Gupp nähert sich dem Klassenzimmer der Oberprima. Beobachtet hinter einer Säule die Türe. Schwamm kommt mit den Heften. Gupps Heft ist dabei... Ohne eine Zeile. Sie wird als ungültig erklärt, seine Arbeit, fertig... Gupp ist der Held der Stunde. Die Oberprima feiert ihren Senior.
    Die Schelle erinnert an neue Pflichten. Physikstunde bei Kilian. Die Klasse macht sich auf den Weg zum Physiksaal. Die Schüler müßten schon längst vor dessen Tür versammelt sein. Kilian wird nicht meckern. Wenn Tithemi es merkt, werden wieder Paragraphen zitiert. Physiksaal, Aula, Turnhalle, Chorzimmer sind erstens, zweitens, drittens... und vor allem dazu da, daß sich die Klassen dort jeweils vor Beginn der Stunde versammeln.
    Aber Tithemi merkt nichts. Eben klopft Fize, der Kastellan, an die Türe von Tithemis „Amtszimmer“. Die weiße Lampe erlaubt Fize den Eintritt. Fize ist alter Soldat. Er hat vor dem Kriege zwölf Jahre lang gedient und kann immer noch stramm stehen wie früher. Und Fize steht stramm: „Herr Direktor, eine Scheibe ist zerbrochen. Die Scheibe über der Türe von... Sie wissen... am Ende des Ganges, das Abteil für die Herren Studienräte, Herr Direktor verstehen mich schon...“ Tithemi wittert eine große Missetat. Scheibe zerbrochen — so! Dazu noch diese — na! Tithemi erhebt sich, um gemeinsam mit Fize den Tatort aufzusuchen. Er kann nichts mehr daran ändern. Sein Herz schlägt empört. Seine Beinchen tragen ihn hurtig zurück in sein Zimmer. Hinter ihm diensteifrig, geflissentlich: Fize. Da kann natürlich nur die Oberprima in Frage kommen! Selbstverständlich, Herr Direktor haben ganz recht, bitte sehr.
    Fize muß in der Oberprima nachfragen lassen. Er klopft, er steht schon in der Türe des Physikzimmers:
    „Ich und der Herr Direktor haben festgestellt, daß die Scheibe über der Tür der Lehrertoilette zerbrochen ist...“
    Kilian ist gerade dabei, einen Kondensator für einen Versuch herzurichten.
    „So..
    Die Oberprima raunt und rumort.
    „Herr Direktor läßt nachfragen, ob einer der Herren etwas davon weiß. Herr Direktor hat nämlich die Oberprima in Verdacht. Ich und der Herr Direktor sind der Ansicht...“
    Kilian hätte bald einen Akkumulator fallen lassen.
    „Weiß einer von euch etwas davon?“
    Nein, die Klasse weiß nichts. Kilian fragt ganz kurz. Er ärgert sich, daß es immer seine Oberprima gewesen sein soll. Als Fize weg ist, fragt er: „Von euch hat es doch wirklich keiner getan...?“ Nein, keiner von denen, die im Physiksaal versammelt sind, hat die Untat vollbracht. Gupp ist schon auf dem Wege nach Hause. Er fühlte sich so elend, daß er sich vor der Stunde bei Kilian gemeldet hat und nach Hause gehen durfte. Er muß doch Hoi nachweisen können, daß ihm so schlecht war...
    Tithemi vernimmt die Botschaft der Oberprima wohl, doch ihm fehlt der Glaube. Aber er fragt selbst nicht mehr nach. Er weiß, daß Kilian beleidigt sein würde. Er weiß... Nein, er denkt ja Unsinn, die Oberprima hat es wirklich nicht getan. Fize bestätigt es ihm:
    „Herr Direktor tun der Klasse diesmal Unrecht ..
    Noch in dieser Stunde läßt Tithemi in sämtlichen Klassen nach dem Übeltäter fahnden — ohne Ergebnis. Niemand weiß etwas.
    Tithemi verkriecht sich wieder in die äußerste Ecke seines Sessels, als Fize ihm das Ergebnis mitteilt, und wartet ungeduldig auf das Ende der Stunde. Sein Gesicht ist jetzt ganz amtlich.
    Die Herren Amtsgenossen sind während der nächsten Pause alle im Lehrerzimmer versammelt. Die Herren Amtsgenossen werden um einen Augenblick Ruhe ersucht. Sie mögen sich, bitte sehr, um den großen grünen Tisch versammeln. Tithemi hat etwas zu sagen.
    „Meine Herren