Fleisch essen, Tiere lieben
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Was an Gesprächen mit Fleischgegnern sehr anstrengend sein kann, ist die moralische Empörung, die oft vorherrscht. Wie gesagt: Ich war mal selbst eine leidenschaftliche Predigerin. Ab und an möchte ich mich immer noch gerne auf einen Stuhl stellen und etwas verkünden. Zahlen wie diese eignen sich hervorragend. 2000 Kilo Getreide! Einfach weg! Und du mit dem Schinkenbrot und dem zerknirschten Gesichtsausdruck bist schuld! Wenn ich es nur glauben könnte. Leider geht das nicht mehr. Denn unser komplexes Leben funktioniert einfach nicht wie ein Schwarz-Weiß-Film. Sobald eine Wahrheit ganz in Licht getaucht ist, vergisst man leicht deren Schattenseiten. Ohne die ist das Bild aber nicht vollständig.
Zu abstrakt? Machen wir ein kurzes Experiment. Wir stellen uns eine zufriedene Kuh vor. Steht diese Kuh in einem Weizenfeld? Nein. Sie grast auf einer Weide. Hier eine interessante Tatsache, die immer übersehen wird: Kühe müssen kein Getreide essen. Im Gegenteil. Es ist schlecht für sie und schlecht für uns. Was aber passiert, im Licht dieser Wahrheit, mit unseren 2000 Kilo Getreide? Sie lösen sich in Luft auf. Die Kuh auf der Weide isst keinem Menschen etwas weg – außer jenem Feinschmecker, der zum Mittagessen gerne ein paar herzhafte Grashalme rupft. Natürlich gibt es diesen Menschen nicht. Denn Menschen können, im Gegensatz zu Kühen, Gras überhaupt nicht verdauen. Dass wir scheinbar eindeutige Zahlen wie jene Kartoffelrechnung glauben und dass sie in der Diskussion um unseren Fleischkonsum immer wieder nachgebetet werden, beweist vor allem eins: Wir haben eigentlich keine Ahnung, wovon wir sprechen. Die genannten Zahlen stimmen eben nur unter einer Annahme, die stets wie selbstverständlich vorausgesetzt wird: Die Tiere, die wir essen, hätten ihr ganzes Leben lang Getreide gefuttert. Stimmt schon: Das ist bei fast allem Fleisch, das wir im Laden kaufen können, der Fall. Aber normal ist es deswegen noch lange nicht.
Die Tiere, die wir essen, sind von Natur aus nicht dafür gebaut, eine reine Getreidediät zu verdauen. Hühner sind keine Vegetarier. Wenn man sie im Freien picken lässt, essen sie so ziemlich alles, was sie in die Schnäbel kriegen: gerne Getreide, aber auch Gras, Würmer und Käfer, selbst Mäuse. Auch Schweine sind Allesfresser. Sie brauchen die Körnerdiät nicht, die man ihnen gibt. Wenn man Hühnern ausschließlich Getreide verfüttert, verfallen sie sogar in Kannibalismus – des Eiweißmangels wegen. Deshalb füttert man sie zusätzlich mit Sojaschrot. Der aus dem gleichen Grund auch Schweinen und Rindern in die Tröge gerührt wird. Ohne dieses billige Eiweißfutter würde unsere industrialisierte Tierhaltung nicht funktionieren. Soja wird leider großflächig auf ehemaligen Regenwaldflächen angebaut: 90 Prozent des weltweit hergestellten Sojamehls wird für Tierfutter verwendet. ⁵⁵ Eine weitere Eiweißquelle ist übrigens Tiermehl. Bei Schweinen und Hühnern scheint eine Fütterung mit Tiermehl zwar ekelhaft, ergibt jedoch ernährungsphysiologisch sogar Sinn, da diese Tiere ohnehin in der Natur Fleisch fressen. Herbivoren wie Kühen ihre eigenen Artgenossen in Mehlform zum Fressen zu geben ist, im wahrsten Sinn, Wahnsinn. Und hat, wie die jüngste Geschichte gezeigt hat, die entsprechenden Konsequenzen. Die BSE-Krise ist eine Folge des Versuchs, den Proteinbedarf von Kühen zu decken. Noch ist Tiermehl als Futterbeilage verboten. Das könnte sich aber bald ändern – die EU-Komission denkt über eine Lockerung des Verbots nach.
Kühe erfahren in Sachen Futter die schlechteste Behandlung. Schweine und Hühner kommen mit ihrer Korn- und Soja-Diät als Allesfresser klar, Rinder aber sind Wiederkäuer. Ihre Körper sind weder darauf angelegt, Getreide zu verarbeiten, noch vertragen sie es gut. Das Verdauungssystem von Wiederkäuern ist, im Gegensatz zu dem des Menschen, darauf angelegt, Zellulose zu verarbeiten. Also Pflanzen, die die Menschen nicht verdauen können – Gras etwa.
Ich korrigiere: Die Ernährung des modernen Menschen besteht zu drei Vierteln aus Gräsern – Weizen, Reis und Mais. Allerdings essen wir nicht die Gräser selbst, von denen wir bestenfalls Bauchschmerzen bekämen, sondern ihre Samen. Die Be sonderheit dieser Gräser liegt darin, dass sie eine große Por tion Energie in diese Samen packen – Kohlenhydrate in konzent rierter Form. Das schmeckt uns, und deshalb bauen wir diese Gräser auf der ganzen Welt an. Andere Gräser, die ihre Energie
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