Fleisch und Blut 2: Thriller (German Edition)
Dingen nicht zimperlich, müssen Sie wissen. Außerdem würde er Hausarrest bekommen und für ein paar Wochen vollkommen von der Bildfläche verschwinden.
Doch selbst danach, wenn sich die Dinge wieder ein bisschen einrenkten, würde nichts mehr so sein wie früher. Wir würden uns zwar versprechen, dass wir immer Freunde blieben, doch daraus würde natürlich nichts werden. Jerry würde neue Freunde finden und wir würden uns auseinanderleben. In unserem Alter ist ein Jahr eine lange Zeit, Miss Hagen. Eine verdammt lange sogar.
Allein beim Gedanke daran habe ich sofort die Lust auf das Luftgewehr und die Übungen verloren. Stattdessen habe ich mir die Mathematikbücher und die neuen Aufgaben unter den Arm geklemmt und bin zu Jerry aufgebrochen, um sie ihm zu bringen.
Ich weiß zwar nicht, was ich mir davon erhofft hatte – immerhin, habe ich gedacht, ging es Jerry sicher beschissen und das Letzte, worauf er an diesem Tag wahrscheinlich Lust hatte, waren Textaufgaben und all so ein Zeug.
Trotzdem bin ich bei meinem Entschluss geblieben, Miss Hagen. Immerhin, dachte ich, wäre es besser für Jerry, auch nur eine einzige Textaufgabe zu lösen, als den ganzen verdammten Tag vor dem Fernseher herumzulungern und sich Cartoons anzusehen – ganz egal, wie verdammt krank er auch war. Außerdem wusste ich aus Erfahrung, dass Jerry manchmal selbst das kleinste Kratzen im Hals ausnützte, um nicht in die Schule gehen zu müssen. Seine Mutter war leichtgläubig, was solche Dinge anging und ich wusste, dass Jerry diesen Wesenszug an ihr manchmal schamlos ausnutzte.
Vielleicht war ich gerade deswegen sogar ein wenig optimistisch, was sein Befinden anging. Denn möglicherweise war Jerry nur auf den Zug der Grippekranken aufgesprungen, der gerade mit vollem Karacho durch die Stadt donnerte.
Also bin ich zu ihm aufgebrochen.
Es war nicht weit zu ihm, ein Katzensprung sozusagen. Fünf Minuten mit dem Fahrrad und gute zehn Minuten zu Fuß. Und da mein Fahrrad keinen Gepäckträger hatte, in dem ich die Bücher hätte verstauen können, bin ich einfach zu ihm hin spaziert.
Doch als ich bei Jerrys Haus ankam, bot sich mir nicht das Bild, das ich erwartet hatte. Eigentlich, Miss Hagen, hatte ich nichts Besonderes erwartet. Aber trotzdem fiel mir gleich beim ersten Blick auf, dass mit dem Haus etwas nicht stimmte:
In der Auffahrt standen zwei Fahrzeuge – das hieß, dass Jerrys Vater nicht zur Arbeit gefahren war. Das ist vielleicht nicht weiter ungewöhnlich, denken Sie sich bestimmt, doch soweit ich mich zurückerinnern kann, habe ich es noch nie erlebt, dass Jerrys Vater Clark einen Tag frei gehabt hätte. Natürlich – an Sonntagen, zu Weihnachten und zum vierten Juli blieb auch er zuhause. Doch ansonsten war er ständig auf Achse.
Der Mann war Vertreter und verkaufte Industriedünger. Das klingt jetzt vielleicht nicht wie der beste Job auf der Welt – aber Clark liebte ihn, müssen sie wissen. Er stand wirklich darauf, mit all den Farmern zu verhandeln und sich mit ihnen um Centbeträge zu streiten. Selbst wenn er daheim war, redete er von nichts anderem. Im Haus der Springers ging es tagein tagaus nur darum, wie Clark die Farmer aufs Kreuz legte und wie er die fetten Provisionen für seine Arbeit einstrich.
Er wäre daher wahrscheinlich auch mit einem Bauchschuss zur Arbeit gefahren, nur um sich keine der Provisionen durch die Lappen gehen zu lassen. Deswegen konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass er sich von einer einfachen Grippe unterkriegen ließ. Von einer landesweiten Pestepidemie vielleicht - aber sicherlich nicht von einer Grippe.
Doch das mit den Fahrzeugen war nicht das E inzige, was mir komisch vorkam, als ich dort auf dem Bürgersteig vor Jerrys Haus stand.
Denn s ämtliche Vorhänge waren zugezogen und auf der Veranda stapelten sich die Müllsäcke. Unrat quoll aus ihnen heraus und einige der schwarzen Säcke waren vollkommen zerfetzt, so als hätte sie ein Waschbär aufgerissen, um an die Nahrungsreste zu kommen.
Klar, werden Sie sich jetzt denken, auf dem Land ist das vielleicht nichts Ungewöhnliches , dass Waschbären über den Hausmüll herfallen. Doch Sie kennen ja auch Jerrys Mutter nicht, Miss Hagen. Sie konnte manchmal nur deswegen einen Schreikrampf bekommen, wenn Jerry einen Schluck Saft direkt aus der Flasche trank. Bei dem Dreck und Gestank auf der Veranda hingegen hätte Misses Springer wahrscheinlich sofort einen Herzinfarkt bekommen. Umso mehr wunderte es mich daher, dass die
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