Fleisch und Blut
tun müssen.«
Er lachte leise. »Nein, ich musste schon.«
»Gehen wir mal zusammen Mittag essen?«, fragte ich.
»Klar, nachdem ich ein bisschen was von diesem Eis weggehauen habe.«
»Subarktisch, ja?«
»Ich wache mitten in der Nacht auf, weil Pinguine mich in den Arsch picken.«
»Was für Fälle?«
»Eine bunte Mischung. Zehn Jahre alter Kindesmord, wahrscheinlich waren es die Eltern, aber es gibt keine Beweise. Zwölf Jahre alter Raubüberfall auf ein Haushaltswarengeschäft, der schief gegangen ist, keine Zeugen, nicht mal anständige ballistische Unterlagen, weil die Täter eine Schrotflinte benutzt haben; ein Säufer, den man vor acht Jahren in einer Gasse ausgeknipst hat; und mein persönlicher Lieblingsfall: eine alte Dame, die in ihrem Bett erstickt wurde, als Nixon Präsident war. Ich hätte meinen Abschluss in Alter Geschichte machen sollen.«
»Literaturwissenschaft passt doch auch nicht schlecht.«
»Inwiefern?«
»Jeder hat eine Geschichte zu erzählen«, sagte ich.
»Yeah, aber wenn ich sie mir erst mal anhöre, gibt's garantiert kein Happyend.«
5
Ihr Mitbewohner deckt sie ...
Jemand, der ein ähnliches Leben führte wie Lauren? Falls ja, gab es für ihn keinen Grund, mit Jane zu reden. Oder mit der Polizei. Oder sonst jemandem.
Jane Abbot behauptete, dass Lauren mich bewunderte. Das fand ich wenig glaubhaft, aber vielleicht hatte Lauren mich ihrem Mitbewohner gegenüber erwähnt und ich konnte etwas von ihm erfahren.
Ich rief die 323er Nummer an, die Jane Abbot mir für Lauren gegeben hatte, hörte einen weiteren männlichen Roboter auf dem Anrufbeantworter und legte wieder auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
Ich dachte noch ein bisschen über den Weg nach, den Laurens Leben genommen hatte. Angesichts des wenigen, was ich über ihr Familienleben wusste, hatte ich vermutlich keinen Grund, überrascht zu sein. Aber ich merkte trotzdem, dass mich ein Gefühl der Enttäuschung erfüllte.
Vor zehn Jahren. Zwei Sitzungen.
Hatte ich zu rasch aufgegeben, als ihr Vater die Therapie beendete? Den Eindruck hatte ich wirklich nicht. Lyle Teague hatte die Vorstellung einer Therapie nie akzeptiert. Selbst wenn ich es geschafft hätte, ihn an den Apparat zu bekommen - ich hatte keinen Grund zu glauben, dass er seine Meinung geändert hätte.
Es gab überhaupt keinen Grund dafür anzunehmen, dass ich versagt hatte, und ich redete mir ein, dass ich mit diesem Gedanken ganz gut leben könne. Aber als der Nachmittag grauer wurde, nagte Laurens Verschwinden noch immer an mir. Kurz nach zwei Uhr nachmittags verließ ich das Haus, jagte den Seville das Tal hinunter auf den Sunset Boulevard, dann nach Osten durch Beverly Hills und den Strip entlang auf die achterbahnartige Auffahrt, die den Kamm des La-Cienega-Boulevards bildete.
Nachdem ich direkt hinter dem Beverly Center auf die Third abgebogen und bei Crescent Heights die Sixth genommen hatte, fuhr ich an der Teergrube vorbei. Gips-Mastodonten stellten sich auf die Hinterbeine, und Schulkinder gafften gruppenweise. Jeden Tag zieht man Knochen aus der Grube. Eine der wichtigsten Touristenattraktionen von L. A. ist ein unendlich großer Friedhof.
Laurens Apartment an der Hauser Street lag genau zwischen der Sixth und dem Wilshire Boulevard; das Haus war ein kittfarbener, aus sechs Wohneinheiten bestehender Kasten, der so alt war, dass er Feuertreppen hatte. Ich nahm einen groben Zementpfad bis zu einer Glastür mit verschlungenen schmiedeeisernen Ornamenten davor. Durch das Glas waren ein düsterer Hausflur und dunkler Teppichboden zu sehen. Eine Reihe von Namen und Klingelknöpfen listete TEAGUE/SALANDER neben Apartment 4 auf.
Ich klingelte und war überrascht, als mir sofort geöffnet wurde. Im Hausflur roch es nach Rindfleischeintopf und Waschmittel. Der Teppichboden war aus altem Wollstoffflamingo farbene Blattformen auf schmutzigem Braun-, der seinerzeit teuer gewesen, jetzt aber völlig abgetreten war. Mahagonitüren waren streifig abgebeizt und zu dick lackiert worden. Hinter keiner von ihnen waren Musik oder Gespräche zu hören. Eine angeschlagene Terrakottatreppe an der Rückseite des Hauses führte mich in den ersten Stock.
Einheit 4 ging zur Straße hinaus. Ich klopfte, und die Tür wurde geöffnet, bevor meine Faust wieder unten war. Ein junger Mann mit einem weißen Waschlappen in der Hand starrte mich an.
Er war etwa einssiebenundsechzig groß und schmächtig, hatte helles Haar, trug ein ärmelloses weißes Unterhemd,
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