Fleisch
Telefonieren einfach nicht stillstehen. Wenn er sie tatsächlich nervös machte, würde sie jetzt eine Haarsträhne hinter ihr Ohr streifen. Das Einzige, was ihn jetzt lächeln ließ, das Einzige, was er von ihrer Antwort mitnahm, war die Tatsache, dass sie „noch nicht“ gesagt hatte. Sie wusste „noch nicht“, ob der Boxershorts oder Slips trug. Ja, zwei Worte konnten viel enthüllen.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte sie nach einer langen Zeit der Stille.
„Ja, es ist alles in Ordnung. Dieser Fall macht mir wohl ganz schön zu schaffen“, log er.
„Du denkst an Ali“, erwiderte sie, und sie hatte es nicht als Frage formuliert.
Vielleicht kannten sie einander schon zu gut.
43. KAPITEL
Nebraska
Lucy hatte das Licht für sie angelassen. Der Geruch nach frisch aufgegossenem Tee erfüllte die Küche. Und nach Zimt.
Als sie Lucy vorhin angerufen hatte, hatte sie ihr vorgeschlagen, sich ein Hotelzimmer zu mieten. Ihr Koffer befand sich schließlich immer noch im Kofferraum des Mietwagens. Dass sie sie letzte Nacht aufgenommen hatte, als sie alle zu erschöpft gewesen waren, um noch einen klaren Gedanken zu fassen, war furchtbar nett von ihr gewesen, aber Maggie wollte Lucys Gastfreundschaft nicht über Gebühr strapazieren.
„Es dauert ja ein Weilchen, bis man bei mir draußen ist, und ich kann es nachvollziehen, wenn Sie lieber im Ort übernachten“, hatte Lucy entgegnet. „Aber ich würde mich über Ihre Gesellschaft freuen.“
Als wolle sie noch einmal darauf hinweisen, dass sie das nicht nur aus Höflichkeit gesagt hatte, fügte sie hinzu: „Und ich habe gerade ein Blech selbst gemachte Zimtschnecken im Ofen.“
Nun fand Maggie Lucy mit einem Buch in der Hand im Wohnzimmer, wo ein kleines Feuer im Kamin knisterte. Um sie herum lagerten die Hunde, die sich wie auf ein Kommando erhoben und schwanzwedelnd auf Maggie zukamen. Sie buhlten um ihre Aufmerksamkeit und schoben einander spielerisch zur Seite.
Maggie ließ sich in den Sessel Lucy gegenüber fallen und streichelte jedes Tier. Auf einmal vermisste sie Harvey. Sie hatte nie eine Mutter gehabt, die wach geblieben war, bis sie heimkam. Im Gegenteil: Maggie war diejenige gewesen, die auf ihre Mutter gewartet hatte, sogar schon mit zwölf Jahren. Manchmal war sie überhaupt nicht gekommen. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie gut sich dieser Ort hier anfühlte, so warm, gemütlich und sicher. Noch keine vierundzwanzig Stunden war es her, und schon kam es ihr so vor, als wäre sie hier zu Hause.
Lucy blickte sie über ihre Lesebrille hinweg an. Sie legte ihr Buch beiseite.
„Sie sehen müde aus“, sagte sie. „Wie geht es Ihnen?“
„Ich bin müde“, antwortete sie lächelnd. „Aber es geht mir gut.“ Jake drückte seine Schnauze an ihre Hand, um noch mehr gestreichelt zu werden, und sie gehorchte umgehend. Seine Artgenossen waren wieder zu Lucy zurückgekehrt.
„Kümmert sich jemand um Ihren Hund, während Sie weg sind?“
„Ja.“
„Jemand, der sich auch um Sie kümmert, wenn Sie da sind?“
„Oh nein, das nicht.“ Maggie schüttelte ihren Kopf und wurde im gleichen Moment ein wenig verlegen, weil sie so schnell verneint hatte. Andererseits wollte sie auch nicht erklären, dass R. J. Tully, der sich um Harvey kümmerte, ihr FBI-Partner gewesen war. Ein Freund, der im Moment sehr viel mit ihrer besten Freundin Gwen Patterson zu tun hatte.
„Aber gibt es da jemanden? Jemand Neues in Ihrem Leben?“
Maggie starrte die Frau an und fragte sich, woher sie die Gabe hatte, so tief unter die Oberfläche blicken zu können.
„Vielleicht“, antwortete sie und musste an ihr Telefonat mit Platt denken. „Das Dumme ist nur, dass ich mich schon so daran gewöhnt habe, allein zu leben. Ich verplane meine Zeit gerne selbst, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen. Und ohne mich anmelden zu müssen.“ Bei sich ergänzte sie, dass allein zu sein auch bedeutete, dass man sicher war. Sicher vor Verletzungen oder Enttäuschungen. „Klingt das nach Unabhängigkeit“, fragte sie Lucy, „oder eher egoistisch?“
„Es muss immer ein gewisses Gleichgewicht geben. Es sollte nie alles oder nichts sein.“ Lucy hielt inne, als überlege sie, ob sie fortfahren wolle oder lieber nicht. „Man sollte jemand anderem gegenüber nie verleugnen, wer man ist. Wenn das nötig wird, dann stimmt etwas nicht. Dann soll es nicht sein. Meine Mutter war eine vollblütige Omaha-Indianerin, und sie hatte alles Menschenmögliche unternommen, um es zu leugnen,
Weitere Kostenlose Bücher