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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Horizont abgesucht.
    Sie hatte ihn zunächst nicht bemerkt – damals waren so viele Besucher gekommen, daß sie nicht so konzentriert war wie in ruhigeren Zeiten. Sie fühlte sich leutselig und unbekümmert, als Gastgeberin einer netten Party. Kurz zuvor war ein Professor heraufgestiegen, ein Ornithologe, und sie hatten sich lange über Steinadler und Rotschwanzbussard unterhalten. Danach kam das Mädchen aus Merced – sie konnte nicht viel älter als siebzehn gewesen sein –, die ihr Baby auf dem Rücken trug, und die beiden dicklichen Mittsechzigerinnen, voller Stolz auf ihren Vier-Kilometer-Aufstieg und leicht benommen von der dünnen Luft und der Aufregung über die eigene Leistung. Elaine hatte den beiden eine Tasse Tee angeboten und ihnen nicht den Spaß verderben wollen, indem sie etwa darauf hinwies, daß auch der Rückweg vier Kilometer lang war.
    Sie hatte seine Schritte auf der Plattform draußen gespürt und sich lächelnd zu ihm umgedreht. Er war groß, mit kräftiger Brust- und Schulterpartie, und tippte sich an den Hut, ehe er den Kopf durch die offene Tür steckte. »Schöne Aussicht hier?« fragte er.
    Etwas in seinem Blick hätte sie warnen müssen, aber sie fühlte sich gesellig und gastfreundlich, und sie spürte auch die Großzügigkeit in seinen Händen und seinem Wesen. »Nichts im Vergleich zu einem Blick auf den Ventura Freeway« erwiderte sie lässig.
    Er lachte laut, und dann stand er in der Tür, beide Hände auf dem Türrahmen. »Anscheinend hat das mönchische Leben Ihrem Humor keinen Abbruch getan« – und dann verstummte er, als wäre er zu weit gegangen. »Na ja, ›mönchisch‹ ist ja wohl das falsche Wort – gibt es eine weibliche Version davon?«
    Ziemlich frech. Und zum Flirten aufgelegt. Aber sie war ebenfalls in der Stimmung dazu, sie wußte nicht, warum – vielleicht weil Todd bei ihr war, vielleicht war es nur die schiere sprudelnde Lust daran, auf dem Dach der Welt zu leben –, und immerhin ödete er sie nicht nur mit der immer gleichen Leier an, die sie an die hundertmal pro Woche über sich ergehen lassen mußte: über das Alleinsein und die schöne Aussicht und Rauch am Horizont. »Kommen Sie rein«, sagte sie. »Ruhen Sie einen Augenblick aus.«
    Er setzte sich auf den Bettrand und nahm den Hut ab. Seine Frisur war ein abgewandelter Punkschnitt – steife, unregelmäßige Zacken –, und das überraschte sie: irgendwie paßte sie einfach überhaupt nicht zu dem Cowboyhut. Seine Jeans waren steif und neu, die handgenähten Stiefel sahen aus wie frisch geputzt. Er betrachtete sie – sie trug khakifarbene Shorts und ein T-Shirt, in Erwartung der vielen Leute hatte sie sich am Morgen die Haare gewaschen, und ihre Beine sahen gut aus – das wußte sie –, braungebrannt und wohlgeformt durch den häufigen Auf- und Abstieg während des Sommers. Sie spürte etwas, das sie schon sehr lange nicht mehr gespürt hatte, seit Ewigkeiten nicht, und sie wußte, daß ihre Wangen sich röteten. »Heute haben Sie sicher einen Sack voll Flöhe zu hüten gehabt hier oben, was?« sagte er, und irgend etwas stimmte nicht an der gezwungenen Lockerheit dieser Wendung, paßte nicht zu seinem Akzent, so wie der Haarschnitt nicht zum Hut paßte.
    »Seit heute früh hab ich sechsundzwanzig gezählt.« Sie schnitt eine Möhre in Würfel und warf sie in die Pfanne zu den Zwiebeln und den Zucchini, die sie zuvor zerkleinert hatte.
    Er starrte aus dem Fenster und bearbeitete seine Hutkrempe mit den Fingern. »Hoffentlich verübeln Sie mir nicht, was ich jetzt sage – aber das Beste an der ganzen Aussicht sind Sie. Sie sind hübsch. Wirklich hübsch.«
    Das hatte sie schon gehört. Ungefähr tausendmal. Von den Ausflüglern, die den Anstieg zum Ausguck unternahmen, waren circa siebzig Prozent männlich, und wenn sie allein oder mit anderen Männern unterwegs waren, versuchten neunzig Prozent von ihnen, sie auf die eine oder andere Art anzumachen. Sie ärgerte sich darüber, konnte es ihnen aber nicht wirklich verübeln. Wahrscheinlich lag eben etwas Unwiderstehliches in der Kombination: junge Frau mit blondem Haar und schönen Beinen in einem gläsernen Turm mitten im Nirgendwo – und ganz allein. Rapunzel, laß mir dein Haar herunter. Komplimente – oder dumme Sprüche – blockte sie meistens ab, indem sie offiziell wurde und sich auf ihre Autorität als Mitarbeiterin der Forstbehörde, Regierungsangestellte und Chefin, Königin und Despotin von Needles Lookout berief. Diesmal sagte sie

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