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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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das Glas zu durchdringen. »Ich campe unten am Long Meadow Creek, und als ich heute früh über den Pfad gekommen bin, dachte ich mir, Sie sind vielleicht einsam, und da wollte ich Sie überraschen« – er zögerte –, »ich meine, mit einem Blumenstrauß.«
    Sie war jetzt am ganzen Körper angespannt. Spinner hatte sie schon öfter oben gehabt – das war Berufsrisiko –, aber an diesem war etwas höchst Beunruhigendes; an diesen erinnerte sie sich. »Es ist zu früh«, sagte sie schließlich und half mit Zeichensprache nach, als wäre die Scheibe nicht schalldurchlässig, dann stand sie auf von dem halbgegessenen Ei und dem Speck, den sie nicht angerührt hatte, und ging zielstrebig zum Funkgerät. Es befand sich direkt unter dem Fenster, vor dem der Mann stand, und als sie das Mikro nahm und den Sprechkopf drückte, war sie einen halben Meter entfernt von ihm, getrennt durch nichts als die dünne Glasscheibe.
    »Needles Lookout«, sagte sie, »hier Elaine. Zack, bist du da? Kommen.«
    Zacharys Stimme meldete sich sofort. Er studierte Forstwirtschaft und löste sie zwei Tage pro Woche ab, wenn sie sich aufmachte, den Berg hinabzusteigen, um einen Tag mit ihrem Sohn zu verbringen, ein paar Einkäufe zu erledigen und abends mit Cynthia Furman, ihrer besten Freundin und Seelenverwandten, ins Kino oder etwas trinken zu gehen. »Elaine«, sagte er durch das statische Knistern, »was gibt’s? Irgendwas Komisches gesehen da draußen? Kommen.«
    Sie zwang sich, aufzusehen und die Augen des Fremden zu prüfen – er grinste immer noch, aber das Grinsen war schlaff und unstet, und es lag keine Freude in der Tiefe dieser harten blauen Augen –, und sie hielt das schwarze Plastikmikrofon einen Moment länger als nötig stumm vor sich, ehe sie antwortete. »Nichts, Zack«, sagte sie. »Wollte mich nur melden.«
    Seine Stimme klang blechern. »Okay«, sagte er. »Dann bis später. Ende.«
    »Ende«, sagte sie.
    Und was nun? Der Kerl trug ein Jagdmesser in einem Futteral am Bein. Er hatte hohle Wangen, als ob er einen Bonbon lutschte, und seine Oberlippe wurde von einem altmodischen, buschigen rötlichen Schnurrbart verborgen. Statt einer Baseballmütze trug er einen breitkrempigen Filzhut. Wyatt Earp, dachte sie, und sie wollte sich gerade vom Fenster abwenden, um ihn ganz einfach zu ignorieren, bis er den Wink endlich verstand, bis er die einhundertfünfzig hölzernen Stufen wieder hinunterstieg und im Wald und aus ihrem Leben verschwand, als er erneut an die Scheibe klopfte und fragte: »Haben Sie was zum Reinstellen für die – für die Blumen, meine ich?«
    Sie wollte seine Blumen nicht. Sie wollte ihn nicht auf der Plattform. Sie wollte ihn nicht in ihr vier mal vier Meter großes Allerheiligstes einlassen, wo er ihre Sachen anfassen, herumstöbern, dumme Fragen stellen und belangloses Zeug plaudern konnte. »Hören Sie«, sagte sie schließlich, wobei sie zwar das Glas ansprach, aber an ihm vorbeiblickte, durch ihn hindurch, und die unendliche Ferne absuchte, wie sie es sich angewöhnt hatte, ganz egal, was passierte. »Ich habe hier eine Aufgabe zu erledigen, und zwischen fünf Uhr nachmittags und zehn Uhr morgens darf niemand hier oben auf die Plattform« – jetzt sah sie ihn wieder an und bemerkte, daß sein Lächeln verflogen war –, »und das müßten Sie eigentlich wissen. Es steht klar und deutlich auf dem Schild unten, wo der Pfad anfängt.« Sie sah beiseite; es war vorbei, sie war fertig mit ihm.
    Sie wandte sich wieder ihrem Frühstück zu, zwang sich, auf das Buch zu starren, obwohl ihr Herz raste und die Worte keinerlei Bedeutung hatten. Als der Mann zum erstenmal gekommen war, war Todd dagewesen. Todd war vierzehn, großgewachsen wie sein Vater, blond und schlaksig. Er war ein guter Junge, ihre letzte, allerletzte Hoffnung, und er schien die Zeit zu genießen, die er mit ihr hier oben verbrachte. Es war ein Samstag nachmittag gewesen, und seit dem Morgen waren ständig Besucher dagewesen. Todd saß in der Vorratskammer unten und schmökerte in Comics (in weiser Voraussicht hatte die Forstbehörde diesen zweiten Raum geschaffen, fünfundzwanzig Stufen tiefer, nicht nur für Vorräte, sondern auch zum Ausspannen – es war ein winzig kleiner Raum der Geborgenheit, mit einem einzigen matten Fenster hoch oben, um Licht hereinzulassen, Antithese und Gegenmittel für die nackte gläserne Kiste des Ausgucks weiter oben.) Elaine war auf ihrem Posten gewesen, hatte Suppengemüse kleingeschnitten und dabei den

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