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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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und dann stellte sich die Frage sowieso nicht. Aber im September fuhr er zurück in die Stadt, zu seinem Vater, in die Schule, und die Welt drehte sich wieder etwas langsamer um ihre müde alte Achse. Um die Zeit blieben auch die Wanderer aus. Im Hochsommer, an den Wochenenden, kamen manchmal an einem einzigen Tag dreißig oder vierzig, aber jetzt, mit Einbruch des Herbstes, ließen sie sie in Ruhe – manchmal vergingen Tage, ohne daß sie eine Menschenseele sah.
    Aber darum ging es ja eben, nicht wahr?
    Sie machte sich gerade Frühstück – ein richtiges zur Abwechslung, Eier und Speck aus dem Propankühlschrank, frischen Filterkaffee und Toast –, als sie ihn sah: auf einer der Serpentinen tief unter ihr mühte er sich bergan. Sofort wurde sie ärgerlich. Es war noch nicht einmal sieben, und das Schild am Beginn des Pfades stellte sehr deutlich fest, daß Besucher willkommen waren, aber nur zwischen zehn und siebzehn Uhr. Was war los mit diesem Kerl – glaubte er, für ihn gäbe es eine Ausnahme, oder was? Dann beruhigte sie sich: vielleicht hatte er ein anderes Ziel. Die Jagdzeit war eröffnet – schon die ganze Woche über hörte sie das ferne, gedämpfte Knallen von Schüssen –, und vielleicht war er nur ein Jäger auf der Spur eines Hirschen.
    Schön wär’s. Als sie beim Wenden ihres Spiegeleis wieder aufblickte, die glatte Granitfläche und die steile, gewundene Holzstiege hinabstarrte, die sich an den Fels schmiegte, sah sie, daß er direkt auf ihren Turm zusteuerte. Verdammt, dachte sie, gerade als der Kessel zu pfeifen begann. Der Magen zog sich ihr zusammen. Das Frühstück war im Eimer. Jetzt würde ihr irgendein Fremder beim Essen über die Schulter glotzen und die üblichen banalen Bemerkungen machen. Die benahmen sich, als wären sie in Disneyland, dabei war es ihr Zuhause, sie wohnte hier. Wie es ihnen wohl gefallen würde, wenn sie morgens um sieben bei ihnen an der Tür klingelte?
    Sie setzte sich zum Essen, mit dem Rücken zur Glastür, und hoffte, er würde weggehen, über den Grat in den Abgrund rutschen und verschwinden, sich in Rauch auflösen, als sie seine Schritte auf dem bebenden Laufsteg spürte, der rund um den Turm verlief. Immer noch drehte sie sich nicht um, sah nicht auf. Beim Essen las sie – im Lauf einer Saison schmökerte sie ganze Waggonladungen von Büchern durch –, ohne den Blick von der Seite zu heben. Sollte er doch vom Laufsteg aus hereinglotzen, durch das Fernrohr ins Tal schauen und dann wieder die Stufen hinunterpoltern, ihr war das egal. Sie war keine Fremdenführerin. Ihr Job war es, nach Rauch Ausschau zu halten, vierundzwanzig Stunden am Tag, und zu den Wanderern, die sich schwitzend und keuchend den langen Weg zu ihr herauf plagten, um sie für kurze Zeit auf dem Dach der Welt zu besuchen, freundlich zu sein – falls sie dazu in der Laune war und die Zeit hatte. Nirgendwo stand geschrieben, daß sie sie in die Hütte lassen, ihnen das Funkgerät oder die kartographische Ausrüstung erklären und den Standardvortrag darüber halten mußte, wie alles funktionierte. Schon gar nicht um sieben Uhr morgens. Zum Teufel mit ihm, dachte sie, während sie das Spiegelei verschlang und versuchte, sich auf ihr Buch zu konzentrieren.
    Dummerweise war sie aber darauf trainiert, etwa alle dreißig Sekunden von allem, was sie gerade tat, aufzublicken und den Horizont abzusuchen, das war ihr zum Reflex geworden. Also blickte sie auf, und da war er. Sie erschrak. Er war rundherum gegangen und stand jetzt direkt vor ihr, grinste und hielt etwas in der Hand hoch. Blumen, Wildblumen, das registrierte sie, dann aber sah sie in sein Gesicht und spürte, wie etwas in ihr zusammensank: sie kannte ihn. Er war schon einmal dagewesen.
    »Lainie«, sagte er, klopfte ans Glas und wedelte mit den Blumen, »ich hab Ihnen was mitgebracht.«
    Ihr Name. Er kannte ihren Namen.
    Sie versuchte ein Lächeln, und ihre Miene gefror um es herum. Das Taschenbuch auf dem Tisch vor ihr stieß den Salzstreuer um und klappte mit einem leisen, wie gehauchten Seufzer von selbst zu. Sollte sie sich bedanken? Sollte sie aufstehen und den Riegel vorlegen? Sollte sie einen Notruf über Funk aussenden und sich das Küchenmesser schnappen?
    »Entschuldigen Sie, daß ich beim Frühstück störe – ich wußte nicht, wie zeitig es noch ist«, sagte er, und dabei geschah etwas mit seinem Grinsen, obwohl seine Augen – ein hartes, metallisches Blau – die ihren wie mit Zangen festhielten. Er hob die Stimme, um

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