Fleischeslust - Erzaehlungen
ungebändigt, endlos, und er gab mir Kraft. Am ersten Ferientag kletterte ich auf den Apfelbaum am Ende der Sackgasse, die unsere Siedlung begrenzte, und sann über die Zeit und Lebenslust nach, die vor mir lagen, und danach würde der Herbst kommen und ich in die Junior High-School gehen. Maki Duryea war fortgezogen. Das hatte ich von Casper gehört, und eines Nachmittags am Ende des Sommers wanderte ich die lange steile Schotterstraße hinauf, um nachzusehen. Das Haus stand leer. Ich kletterte auf den Hügel dahinter, um durch die kahlen Fenster zu spähen und mich zu vergewissern. Nackte Dielenböden erstreckten sich vor nackten Wänden.
Und dann, im Chaos des großen Parkplatzes vor der Junior High, auf dem fünfzig Busse die Kinder aus einem Dutzend Grundschulen ausluden – ich fühlte mich verloren und fehl am Platz und eingezwängt in ein langärmliges kariertes Hemd, das ich am Morgen frisch aus dem Cellophan gezogen hatte –, da sah ich sie. Sie sprang aus einem der anderen Busse, in einer Kaskade aus Beinen und Armen und nervösen Gesichtern, eine Büchertasche über die Schulter geworfen, das Haar bis zur Taille, wie festgebügelt. Ich konnte mich nicht rühren. In diesem Moment blickte sie auf, sah mich und lächelte. Dann war sie verschwunden.
Als ich an diesem Abend einen harten schwarzen Ball gegen die Hausmauer knallte und an nichts weiter dachte, spürte ich den schwachen, elektrisierenden Hauch eines vergessenen Dufts in der Luft, und da war er, der Nebelmann, ratterte in seinem offenen Jeep am Haus vorbei. Mein Fahrrad lag am Straßenrand, und mein erster Impuls war, mich darauf zu schwingen, aber dann hielt ich inne. Etwas war anders diesmal, und anfangs wußte ich nicht genau, weshalb. Dann aber bemerkte ich, was es war: der Nebelmann trug eine Maske, eine Gasmaske, wie man sie in Kriegsfilmen manchmal sah. Er hatte die übliche Eskorte von strampelnden Radlern hinter sich geschart, als er zum zweitenmal an unserem Haus vorbeikam, und ich stand jetzt auf dem Gehsteig, um dieses Phänomen zu studieren, diese subtile Veränderung in der Struktur der Dinge. Er wirkte anders mit der Maske, irgendwie finster, und seine Augen schienen zu glitzern.
Der Sprühnebel verwischte den Blick auf die Häuser gegenüber, die radelnden Kinder verschwanden, die niedrigen dunklen Wolken ballten sich über dem perfekt gepflegten Rasen und trieben auf mich zu. Und dann, ehe ich noch wußte, was ich tat, war ich auf dem Fahrrad, zusammen mit den anderen, und jagte dem Nebelmann durch den Dunst hinterher, jagte ihm nach, als hinge mein Leben davon ab.
Auf dem Dach der Welt
Die Leute fragten sie immer, was es für ein Gefühl sei. Sie sah ihnen von ihrem Turm aus zu, wenn sie mit ihren Baseballmützen und kleinen Rucksäcken, in Shorts und Wanderstiefeln oder Turnschuhen den Pfad entlangkamen. Die tapferen unter ihnen erkletterten auch noch die einhundertfünfzig Holzstufen, die man in den Berg gebohrt hatte, um sich dann gegen das hohe Geländer vor dem kleinen Wachturm mit den Glaswänden zu lehnen, den sie sieben Monate im Jahr ihr Zuhause nannte. Schwitzend, Feldflasche oder Wassersack an den Lippen, in der dünnen Luft nach Atem ringend, fragten sie dann, was es für ein Gefühl sei. »Wunderschön«, sagte sie immer. »Friedlich.«
Aber das drückte es nicht annähernd aus. Es war ein unbeschwertes Schweben, als triebe man mit den Wolken dahin, geborgen in der Handfläche Gottes. In zweitausendsiebenhundertfünfzig Metern Höhe konnte sie im fernen Dunst den Rand der Welt sehen, sie sah den Mount Whitney, der sich aus dem Kräuselmeer der Sierra erhob, und sie sah Sterne, die noch nicht einmal entdeckt worden waren. Morgens war sie die erste, für die die Sonne über den Hügeln im Osten aufging, und am Abend, wenn es unter ihr schon dunkel war, die drängenden Finger der Nacht längst alle Täler und Höhenzüge erfaßt hatten, sah sie sie als letzte. Da war der Wind in den Bäumen, das Raunen von unendlich vielen Nadeln an den zahllosen rauschenden Ästen von den Kiefern, Sequoias und Zedern, die sich unter ihr ausbreiteten wie ein Teppich. Da war der Tagesanbruch. Die Stille um drei Uhr früh. Sie konnte es nicht erklären. Sie saß auf dem Dach der Welt.
Wird es Ihnen nicht einsam da oben? fragten die Leute. Kriegen Sie nicht einen kleinen Koller, so ganz allein?
Was sollte sie da sagen? Ja, natürlich war es einsam, aber das machte ihr nichts. Im Sommer hatte sie Todd bei sich, jede zweite Woche,
Weitere Kostenlose Bücher