Flesh Gothic (German Edition)
um alles in der Welt könnte sich dieser Irre vorbereitet haben?«, murmelte Westmore bei sich. Dann tastete er nach dem Umschlag in seiner Tasche, der Geldbündel enthielt, denen noch viele weitere folgen würden.
Wen interessiert’s? Er war nicht fürchterlich entsetzt über die Erkenntnis. Wenigstens bin ich ehrlich, wenn ich nicht abstreite, dass ich für Geld so ziemlich alles tun würde .
»Bin echt in Not, Bruder!«, sagte da eine raue Stimme. »Ich könnt alles brauchen, was de erübrigen kannst.«
Westmore sah sich um und konnte niemanden entdecken. Es wurde allmählich dunkel. Dann bemerkte er zu seinen Füßen einen heruntergekommenen Mann mit fettigen Haaren, der hinter der Mülltonne neben dem Bushäuschen saß, in dem Westmore an diesem Tag glücklicherweise nicht mehr warten musste.
Wässrige Augen richteten sich flehentlich auf ihn. »Mir haben se im Irak das Bein zerschossen.«
Das bezweifelte Westmore allerdings. Das Bein, das aus der fleckigen kurzen Hose ragte, schien eher verdreckten Nadeln zum Opfer gefallen zu sein. »Klar«, sagte er und griff in seine Tasche. Ich habe einen Arsch voll Geld dabei, erinnerte er sich. Er drückte dem Penner eine 100-Dollar-Note in die Hand.
»Is das alles, was de hast?«
Meine Fresse , dachte Westmore nur und ging weiter.
Mal sehen, sie hat gesagt, sie wartet in der Austernbar auf mich – ausgerechnet dort . Er spähte durch die matte Flachglasscheibe und sah Karen an der edlen Kirschholztheke sitzen. Er rief sich in Erinnerung, dass er das Lokal seit rund drei Jahren nicht mehr betreten hatte. Früher war er wegen der vornehmen Düsternis im Gastraum geradezu verrückt danach gewesen – angenehmer Nebeneffekt des Ambientes: Man konnte sich im Spiegel hinter den Alkoholregalen kaum erkennen.
An einigen Tischen saßen Gäste, Karen erwartete ihn an der Bar. Na toll, die besäuft sich gerade, dachte er. Sie warf die langen blonden Strähnen zurück und trank einen Schluck aus einem lächerlich großen Martiniglas voll blau schimmerndem Eis.
Westmore zuckte zusammen, als er sah, was unmittelbar danebenstand: zwei Gläser, ein Dewar’s mit Eis und ein Ginger-Ale.
Woher zum Teufel weiß sie ...
Karen schien ins Leere zu starren, während sie an ihrem XXL-Drink nippte.
»Da bin ich«, sagte Westmore.
»Habe ich das Richtige bestellt?« Sie deutete auf die zwei Gläser neben sich.
»Ja, aber ich trinke nicht mehr.«
»Ach, das weiß ich doch. Aber Sie bestellen immer einen Scotch und trinken ihn nicht. In der Bar in dem Viertel, wo Sie wohnen. Jeden Abend. The Sloppy Heron, so heißt der Laden, glaube ich? Aber vor einigen Jahren hätten Sie das Ginger-Ale links liegen gelassen und acht bis zehn Dewar’s getrunken. Hier genauso. Die Austernbar, in der wir gerade sind – Sie sind hier früher oft hergekommen, nicht wahr?«
»Ja. Und ich wurde hier oft rausgeworfen . Ich bin sehr froh darüber, dass ich nicht mehr trinke.« Seufzend ließ sich Westmore auf einen Barhocker sinken. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich durch die Begegnung mit Vivica – so anregend sie gewesen sein mochte – erschöpft.
»Wenn Sie versuchen, mit dem Trinken aufzuhören ...«
»Nicht versuchen «, berichtigte Westmore sie. »Ich habe damit aufgehört .« Er wusste, was als Nächstes kommen würde.
»Warum gehen Sie dann immer noch in Bars? Warum stellen Sie einen Drink vor sich hin? Ich könnte mir vorstellen, dass die Versuchung manchmal überwältigend sein muss.«
»Ist sie nicht. Und ich tue es, weil es mir beim Nachdenken hilft. Ich bin Schriftsteller. Schriftsteller haben merkwürdige Rituale.« Er griff nach dem Glas und spähte in die gelbe Flüssigkeit hinein. »Ich sehe es mir gern an. Ich höre gern das Eis klirren. Ich rieche gern daran. So bekomme ich den Kopf frei.« Er lächelte das Glas an. »Das ist meine Zerstreuung. Quasi meine Kristallkugel.«
»Interessant, dass Sie das sagen. Unter den Leuten im Haus ist eine Hellseherin.«
»Wirklich?«
»Vielleicht hat sie auch solche Rituale.« Karen rührte mit einem Finger ihren Drink um, dann zeigte sie auf Westmores Scotch. »Haben Sie schon mal die Zukunft darin gesehen?«
»Jetzt nicht mehr. Aber früher. Ich habe in diese Gläser mit acht Dollar teurem Schnaps geschaut und sah darin meinen Tod. Gleich da draußen neben der Bushaltestelle ist ein Obdachloser. Er sieht aus, als ob er verrottet. Früher habe ich in meiner Zukunft genauso einen Kerl gesehen.«
»Tja, das ist interessant. Aber ich
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