Flesh Gothic (German Edition)
oder mehr Blütenhalme von ihr weg, galt das als gutes Omen; wiesen sie zu ihr: ein schlechtes Omen. Sie blickte nach unten. Na toll, dachte sie. Die Halme sämtlicher Blüten zeigten auf sie. Mit zusammengekniffenen Augen spähte sie noch einmal zu dem Auto und glaubte, eine Blondine hinter dem Lenkrad und einen Mann mit Brille auf dem Beifahrersitz zu erkennen. Ich frage mich, wer die sind ...
Cathleens Interessen waren vielfältig, sie kannte sich mit zahlreichen Dingen aus. Persönlich betrachtete sie sich als Medium – zumal sie vor langer Zeit weitere Versuche in Richtung Telekinese aufgegeben hatte –, aber sie verfügte noch über andere übersinnliche Fähigkeiten: Kristallologie, Weissagungen, Chiromantie. Auf dem Höhepunkt der Leidenschaft – oder Lust – konnte sie Gedanken lesen. Überwiegend arbeitete sie jedoch als Medium – keine allzu komplizierten Sachen. Mal kommunizierte sie mit Verstorbenen, mal tauchten deren Seelen kurzzeitig in ihren Körper ein und übernahmen die Kontrolle.
Sie verehrte Gott und Buddha, Nergal und Ra, Mohammed und die Erdmutter ... weil sie wusste, dass es sich bei allen um dieselbe höhere Macht handelte.
Ihr einziges großes Problem bestand darin ... doch das war eine andere Geschichte.
Gott, es ist wunderschön, dachte sie, während sie über das Gelände schlenderte. Sie ließ die Villa hinter sich und spazierte in ihrem lindgrünen, eng anliegenden Sommerkleid barfuß in den Wald. Das Licht der Sonne spielte mit ihrem blonden Haar. Als Cathleen an einer Trauerweide vorbeilief, die gut und gerne hundert Jahre alt sein mochte, wurde es schlagartig kühler. Ihr fiel auf dem Hügel keine einzige Palme auf, es gab nur 30 Meter hohe Kiefern und die allgegenwärtigen Weiden, von deren Ästen Louisianamoos hing. Tiefer im Wald entdeckte sie wunderschöne Wildblumenbeete – regelrechte Teppiche aus Diapensia und rosaroten und weißen Maiglöckchen. Seht mich an, ich bin Mutter Natur, der glückliche Elementargeist des Waldes, dachte sie, dann: Scheiße!, als ihr nackter Fuß auf einem Halm aus Büffelgras landete. Sie humpelte weg und kam sich lächerlich vor, als sie sich gegen einen Baumstamm lehnte, um den stacheligen Dorn aus der Sohle zu zupfen. Verdammt, tut das weh!
Weiter vorn schien der Wald noch dichter zu werden. Schlingpflanzen und sonstige Ranken zogen sich wie verworrene Absperrketten zwischen den Bäumen hindurch. Die Gerüche des Waldes lockten sie, aber zunächst sah sie keinen Sinn darin, weiterzugehen. Die Ranken schienen zu dicht, die Wucherungen zu wild zu sein. Dann jedoch bemerkte Cathleen einen Durchgang und etwas, das nach einem Tor aussah.
Vermutlich hatte sie ihre übernatürliche Wahrnehmung hierhergeführt, denn eigentlich war sie gar nicht gezielt zu einem Spaziergang aufgebrochen.
Sie suchte nach etwas.
Das ist es ...
Das rechteckige Stück Land wirkte, als habe es jemand in den dichten Wald hineingemeißelt: ein Friedhof, gesäumt von einem rostgesprenkelten Eisenzaun mit Spitzen. Ungleichmäßige Reihen von Grabsteinen ragten aus der braunen Erde auf. Einige datierten in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, während es sich bei den Exemplaren im hinteren Bereich um willkürlich zugeschnittene Granitblöcke mit handgemeißelten Namen zu handeln schien, die man nicht mehr entziffern konnte.
Mit knirschenden Schritten ging Cathleen bis zum äußersten Winkel, wo sie sogar auf einen Stein aus dem 17. Jahrhundert stieß.
Dieser Ort ist VERFLUCHT alt.
Sie fragte sich, wofür das noch gelten mochte.
REGINALD HILDRETH stand auf einem neuen, eher schlichten Grabmal aus schwarzem Granit. GESTORBEN: 4.3.2004. Cathleen wunderte sich nicht darüber, dass ein Geburtsdatum fehlte. Hildreth ließ die Menschen gern im Dunkeln tappen, vermutete sie. Ein Blender. Es war das Haus, das sie beunruhigte, nicht der Mann – zumindest bislang.
Dafür bin ich hier, also keine falsche Scheu!, sagte sie sich. Sie kniete sich eineinhalb Meter vom Grabstein entfernt hin und legte ihre Tasche ab. Aus der Vorratskammer der Villa hatte sie einiges mitgenommen und holte nun einen der Gegenstände aus der Tasche: ein Ei. Nichts Besonderes, einfach ein großes Hühnerei, das zweifellos aus dem nächstgelegenen Supermarkt stammte. Mit einem Nagel aus Sandstein – einem Relikt, das ihr ein Archäologe geschenkt hatte – klopfte sie behutsam gegen beide Enden und brach Löcher in die Schale. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, hob das Ei an die Lippen und
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